Versicherungsbote: Sehr geehrter Herr Schwintowski, wir möchten mit Ihnen über die Absicherung der Berufsunfähigkeit sprechen. Laut der ARD-Sendung „Report Mainz“ werfen Sie dem Staat Verfassungsbruch vor, weil er sich aus der Grundversorgung bei der Berufsunfähigkeit zurückgezogen hat, nur noch die Erwerbsunfähigkeit absichert. Können Sie diesen Vorwurf bitte erläutern?

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Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski lehrt und forscht an der Humboldt-Universität Berlin. Prof. Dr. Schwintowski: Menschen, die berufsunfähig werden, sind genau gesehen dauerhaft krank. Sie gehören systematisch eigentlich in die gesetzliche Krankenversicherung. Das Herauslösen der dauerhaften Erkrankung aus dem Schutzbereich der Sozialversicherung verstößt deshalb nach meiner Meinung gegen das Sozialstaatsprinzip. Der Sozialstaat hat die Aufgabe zu gewährleisten, dass Menschen, die dauerhaft berufsunfähig werden, zumindest über eine Art Grundrente verfügen. Deshalb meine ich, dass der Ausstieg aus der Berufsunfähigkeitsabsicherung durch die Sozialversicherung Anfang des zweiten Millenniums mit den geltenden Verfassungsgrundsätzen nicht in Einklang zu bringen ist.

Versicherungsbote: Seit dem Rückzug des Staates kommt den Privatversicherern die Aufgabe zu, das existenzbedrohende Risiko eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Berufsleben abzusichern. Können die privaten BU-Versicherer Ihrer Meinung nach die Aufgabe erfüllen, der Bevölkerung einen ausreichenden Schutz zu bieten?

Schwintowski: Private Versicherer können die Aufgabe, die Berufsunfähigkeit abzusichern, nur für Personen erfüllen, die sich diese Absicherung finanziell leisten können. Für viele Berufsgruppen, in denen ein hohes BU-Risiko besteht, ist die Prämie einfach zu teuer. Folge: privaten Versicherungsschutz kann man nicht mehr bezahlen. Außerdem müssen private Versicherer Geld verdienen – d.h. sie werden aus den Risiken „aussteigen“, in denen sehr viele Schäden anfallen, aber gleichzeitig eine sehr geringe Prämie gezahlt wird. Das aber sind die Fälle und die Menschen, die sich nicht anders helfen können, die mit anderen Worten auf die Absicherung in der Sozialversicherung angewiesen sind. Privatversicherer sind hervorragend geeignet um Zusatzversicherungsangebote zu machen.

Immer mehr Tarifselektion bedeutet Rosinenpickerei

Versicherungsbote: Die Absicherung des BU-Risikos ist ein Muss, da sind sich Versicherungswirtschaft und Verbraucherschutz einig. Aber Risikoberufe wie Dachdecker haben es immer schwerer einen Vertrag zu finden, weil die Versicherer strenger nach Berufs- oder Risikogruppen scheiden. Waren wir früher bei 3-4 Risikogruppen, arbeiten die Versicherer jetzt mit bis zu 20 Kategorien. Wie bewerten Sie die zunehmende Differenzierung der Risiken – gerechte Beitragskalkulation oder Rosinenpickerei?

Schwintowski: Die zunehmende Differenzierung in Risiken führt letztlich dazu, dass die Versicherungsidee, nämlich das gemeinsame Tragen von Risiken, aufgegeben wird. Immer mehr Tarifselektion führt letztlich also zum Rosinenpicken einerseits und andererseits dazu, Menschen, die dringend auf Versicherungsschutz angewiesen sind, aus dem Kollektiv einfach auszugrenzen und sie schutzlos stehen zu lassen. Auch insoweit ist der Rechtsstaat aufgerufen, Schutzlücken, die auf diese Weise entstehen, zu schließen.

Versicherungsbote: Der GDV-Verband hat im Januar Zahlen präsentiert, die belegen sollen, dass fast alle Berufsrisiken versicherbar sind. Bei 823.000 Anträgen auf Abschluss einer BU gab es 2014 in fast 776.000 Fällen ein Versicherungsangebot. Das entspreche einer Annahmequote von über 94 Prozent. Kritiker verweisen jedoch darauf, dass ein Angebot keineswegs bedeute, dass der Vertrag auch zustande kommt. Vielleicht ist der Schutz teuer und enthält viele Leistungsausschlüsse, so dass der Kunde ablehnt. Wie bewerten Sie die nun veröffentlichten Zahlen des GDV?

Schwintowski: Sie haben Recht, aus den Zahlen, die der GDV veröffentlicht hat, lässt sich nicht schließen, wie viele Verträge zu wie viel Prämie und mit welchem Deckungsschutz zustande gekommen sind. Deshalb sollte der GDV Zahlen veröffentlichen, welche Berufsgruppen zu welchen Prämien (gemeint ist immer der Durchschnitt!) tatsächlich versichert wurden und wie hoch die Deckungssummen waren. Außerdem müsste man wissen, wie viele Menschen, die möglicherweise auf den BU-Schutz angewiesen sind, sich erst gar nicht um das Versicherungsangebot bemüht haben, weil sie sowieso der Meinung sind, dass sie es nicht bezahlen können.

Versicherungsbote: Kann man den Privatversicherern überhaupt einen Vorwurf machen, wenn sie bestimmte Risiken nicht mehr oder nur noch teuer versichern wollen? Sie sind auch Unternehmen, die wirtschaftlich denken und handeln müssen.

Schwintowski: Privatversicherer sind eben keine Sozialversicherer – sie bieten Risiken gegen Entgelt an, um ihrerseits Geld zu verdienen. Das sind sie übrigens auch ihren Gesellschaftern und Aktionären schuldig. Das ist auch der Grund, warum man nicht den privaten Versicherern, sondern der Sozialversicherung die Grundabsicherung in der BU auferlegen müsste.

Leistungsquote hat sich deutlich verbessert

Versicherungsbote: Ein weiterer Vorwurf gegen die Branche: Die Versicherer würden mit allerlei juristischen Tricks im Leistungsfall eine Zahlung erschweren oder gar verhindern. Der Dachverband der Versicherer wehrt sich auch gegen diesen Vorwurf: Die Leistungsquote (also das Verhältnis von anerkannten zu eingereichten Leistungsanträgen) habe 2014 bei annähernd 77 Prozent gelegen. Also sind BU-Versicherer doch keine „Nein-Sager“, wenn es um zu erbringende Leistungen und Renten geht?

Schwintowski: Die Zahlen, die der GDV für 2014 vorgelegt hat, sind eine deutliche Verbesserung gegenüber früheren Zahlen, bei denen Insider darauf hingewiesen haben, dass die Ablehnungsquote bei mindestens 30% aller Leistungsanträge liegt. Aber: wenn 23 Menschen, die einen Leistungsantragt stellen, letztlich keine Leistung bekommen, heißt das, dass fast ¼ aller Betroffener letztlich keine BU-Deckung haben – was sollen die machen, wenn sie berufsunfähig sind?

Versicherungsbote: Der Staat könnte beim Thema BU wieder strenger in die Pflicht genommen werden. Aber auch die Rentenversicherung wird nur eine Grundversorgung bei Berufsunfähigkeit bereitstellen können, schon weil die Gesellschaft altert und die Beiträge auf weniger Schultern verteilt werden. Wie sähe nach Ihrer Einschätzung ein Modell aus gesetzlicher und privater Absicherung aus, das die jetzigen Lücken schließen kann?

Schwintowski: Ja, der Staat (d.h. letztlich die Gemeinschaft aller Steuerzahlenden) wird nur eine Grundversorgung bei BU anbieten und leisten können. Man könnte darüber nachdenken, dass Menschen einen sehr kleinen Beitrag für die zukünftige (nicht ausschließbare) BU ab Geburt in einen BU-Fonds, angesiedelt bei der Sozialversicherung, einzahlen. Dann würde man den Zins und Zinseszins zugunsten der Versicherten erwirtschaften und man hätte die Kosten, die für die Vermittlung solcher Verträge in der Privatwirtschaft entstehen, eingespart.

Die Folge: etwa 80% der zukünftigen Leistungen würden über Kosteneinsparungen beziehungsweise den Zinseszins erwirtschaftet. Die Prämie kann also sehr gering sein, um die Grundleistung und vielleicht sogar ein bisschen mehr durch den Staat abzusichern, wenn man nur ein vernünftiges Finanzierungskonzept macht. Die BU-Prämie könnte Teil des Kindergeldes sein.

Versicherungsbote: Wäre in der BU-Sparte auch ein Modell ähnlich dem Pflege-Bahr-Policen denkbar, so dass der Gesetzgeber den Versicherern vorschreibt, dass Vorerkrankungen und Berufsgruppen kein Ausschlusskriterium sein dürfen? Darüber hinaus könnte man für den Eintritt der Berufsunfähigkeit Mindeststandards zu erbringender Leistungen vorschreiben.

Schwintowski: Sie haben völlig Recht, wenn man die BU wieder zurückintegriert in die Sozialversicherung, werden Vorerkrankungen und Berufsgruppen keine Rolle spielen, außerdem wird man Mindeststandards für zu erbringende Leistungen vorschreiben – vor allem wird man dafür sorgen müssen, dass der Begriff der Berufsunfähigkeit (wann ist das und wann ist das nicht der Fall) sehr viel klarer und transparenter definiert wird, als dies heute der Fall ist.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig