Kfz-Telematik-Tarife: Das Prinzip

"Sage mir, wie du fährst – und ich sage dir, wie viel du sparen kannst!" So lautet grob vereinfacht das Prinzip von "Pay as you drive"- oder Telematiktarifen in der Autoversicherung. Der Fahrer erklärt sich hierfür bereit, seine individuelle Fahrweise von einer Black Box oder App überwachen zu lassen. Wer vorsichtig fährt, in der Kurve vom Gas geht und nicht oft abrupt bremst, kann mit Ersparnissen bei der Prämie rechnen. So schreibt es Versicherungsbote in einem Artikel.

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Die entscheidende Frage

Und woher weiß der Versicherer, dass dort eine Kurve ist? Werden die Fahrtrouten aufgezeichnet? Weiß der Versicherer dann auch,

  • wo ein Stoppschild ist und ob man gehalten hat? Drei mal nicht wirklich ganz gestoppt bedeutet eine Prämienerhöhung?
  • dass der Fahrer im Rotlichtviertel war und selbstverständlich auch wie lange? Datenverknüpfung ist leicht, man muss die Daten nur haben.
  • dass der Fahrer nur einmal im Jahr seine alte Mutter besucht und nur 10 Minuten bleibt? Folgt daraus eine Prämienerhöhung wegen sozialer Inkompetenz?

Das Fahrtenbuch und das Finanzamt

Was ist mit dem Finanzamt? Stellen Sie sich vor, Sie sind Selbständig und führen zu Ihrem Fahrzeug ein Fahrtenbuch. Muss der Versicherer dann zukünftig die Fahrdaten ans Finanzamt herausgeben, damit durch das Finanzamt die Daten des Fahrtenbuchs mit den gewonnenen Fahrdaten des Versicherers abgleichen kann? Bankkonten-Einsicht hat das Finanzamt ja schon.

Individuelles Fahrverhalten soll belohnt werden

Das individuelle Fahrverhalten der Versicherten soll bei einer vorsichtigen Fahrweise mit Prämiennachlässen belohnt werden. Das klingt erst einmal gut. Aber:

  • Werden tatsächlich nur Daten zum Fahrverhalten gespeichert?
  • Was ist mit Ortsdaten, Datum und Uhrzeit? Weiß der Versicherer dann auch, mit wem ich mich treffe?
  • Gilt das zumindest dann, wenn der Andere ebenfalls einen Telematik-Tarif hat und die Versicherer sich zu den Telematik-Daten austauschen?
  • Werden aus den Fahrzielen, Fahrzeiten und Aufenthaltszeiten Rückschlüsse auf die Lebensführung gezogen, die dann Auswirkungen auf den Personenversicherungsschutz haben? So z.B. in der Risikolebens-, der Berufsunfähigkeits- und der Unfallversicherung?
  • Dreimal in der Woche wenig Schlaf, weil mein Auto immer erst gegen 4:00 Uhr morgens abgestellt wird. Zuschlag in der Kfz-Versicherung wegen möglicher Übermüdung am Steuer? Zuschlag in der Kranken-, Risikolebens-, Berufsunfähigkeits- und der Unfallversicherung wegen ungesunder Lebensführung?
  • Was ist, wenn Hacker oder sonstige Kriminelle die Daten abfangen und verfälschen?

Oder sind Telematik-Tarife eigentlich schon ganz egal, weil Google und die Telefondienstanbieter durch die Standortbestimmung der Handys sowieso wissen, wann man wo ist? Oder weil unbedarfte Nutzer sozialer Netzwerke ihre Daten ohne Nachdenken selbst veröffentlichen?

Verbraucherschützer sehen Angebote kritisch

Kritik kommt auch von Verbraucherschützern, die befürchten, dass die Prämien in der Kfz-Versicherung langfristig steigen könnten – und zwar für jene Autofahrer, die zu einer Weitergabe ihrer individuellen Fahrdaten nicht bereit sind. "Wenn sich das durchsetzt, wird es Nachteile haben für diejenigen, die sich verweigern", sagt Sascha Straub von der Verbraucherzentrale Bayern der Deutschen Presse-Agentur.

Kfz-Versicherung ist nicht allein

Auch in der Personenversicherung versuchen die Versicherer „quasi Telematik-Tarife“ einzuführen. So z.B. in den Bereichen Berufsunfähigkeitsversicherung, Todesfallabsicherung, Krankenversicherung und Unfallversicherung. Dort sollen die Versicherten ihrer Versicherung wohl schon bald sehr viel mehr Einblicke in ihr Leben und ihre Lebensweise gestatten.

So will die z.B. Generali-Versicherung regelmäßige Aktivitäten im Fitness-Studio und/oder den Einkauf von gesunden Lebensmitteln im Bio-Laden belohnen. Genauer gesagt wird von "Anreizen" gesprochen. Und über das Fahrzeug des Versicherten mit Black-Box oder APP prüft der Versicherer dann vielleicht später, ob der Besuch des Fitness-Studios tatsächlich stattgefunden hat. Schöne neue kontrollierte Glashauswelt.

Wie es vielleicht weiter geht

  • Wird übermorgen der Inhalt des Kühlschrankes automatisch nach Herkunft sowie nach Vitamin- und Pestizidgehalt erfasst und an den Versicherer gemeldet?
  • Ab wie viel Flaschen Bier im Kühlschrank gibt es Lebensführungs-Minus-Punkte?
  • Liefert das Kassensystem eines Supermarktes, Reformhauses, Bio-Ladens sowie von Apotheken und Sanitätshäusern zukünftig über die Kredit- oder Geldkarte automatisch den Kassenbon mit genauen Bezeichnungen der gekauften Ware an den Versicherer? Gibt es deshalb Bestrebungen, dass Bargeld abgeschafft werden soll? Ab wieviel Packungen gekaufter Schmerztabletten gibt es Zuschläge im Personenversicherungsbereich? Frauen, die regelmäßig die Pille kaufen, bekommen dann keinen Zuschlag wegen fehlender Schwangerschaftsgefahr?
  • Erhält man vom Versicherer zukünftig Strafpunkte für den Kauf einer Flasche Orangensaft aufgrund des darin enthaltenen Zuckers oder Fruchtzuckers? Obwohl der Orangensaft aus dem Bio-Laden und vielleicht gar nicht für den Versicherten bestimmt war?
  • Was meldet vielleicht bald schon die digitale Zahnbürste mit WLAN-Anschluss an den Versicherer oder an Ihre Krankenkasse? Benutzen Sie eigentlich die richtige Zahnpasta und die richtige Zahnbürste und putzen Sie oft genug Ihre Zähne? Wie lange wird es noch dauern, bis die Versicherer auch das wissen?

Entsolidarisierung des Versicherungsgedankens

Kommt es zu dem oben angedachten Szenarien, dann werden viele Versicherte dazu gezwungen sein, den Versicherern Einblick in ihr Leben und ihre Lebensweise zu gewähren, um sich Versicherungsschutz überhaupt noch leisten zu können - ganz egal ob sie das wollen oder nicht. Im zweiten Schritt werden solche Bestrebungen vermutlich auch dazu führen, dass sich immer weniger Verbraucher überhaupt versichern können.

Die Frage, wo der eigentliche Versicherungsgedanke bei einer solchen Entwicklung bleibt, müssen sich sowohl Versicherer wie auch der Gesetzgeber - der diesem Treiben bisher kein Ende setzt - gefallen lassen. Manche bezeichnen die derzeitige Entwicklung gar als Pervertierung des eigentlichen Versicherungsgedankens.

Jetzt und auch in Zukunft sollte gelten: Eine Versicherung stellt die Beseitigung des Risikos eines Einzelnen durch Beiträge von Vielen sicher - ohne Berufsgruppen, ohne Telematik und ohne sonstige Forderungen nach Einsicht in die Lebensweise der Versicherten.

Verbände müssen aktiv werden

Hier sollten Vermittler- und Verbraucherverbände zum Schutz der Kunden zusammenarbeiten, wenn der eigentliche Versicherungsgedanke erhalten bleiben soll. Was macht der AfW? Wo ist der BVK? Arbeitet die IGVM schon an einem entsprechenden Grundsatz-Papier? Was machen die Verbraucherzentralen? Wie bezieht der BdV Stellung? Und wieso hört man eigentlich aus dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz nichts in dieser Sache?

Hoffnung

Es bleibt zu hoffen, dass Verbraucherschützer, Vermittlerverbände und Gesetzgeber es in Sachen Kfz-Telematik-Tarife und der Datenerfassung im biometrischen Bereich nicht zu einer Tarifentwicklung der unendlichen Datensammelwut kommen lassen werden. Wehret den Anfängen, auch wenn die Angebote auf den ersten Blick verlockend erscheinen …

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meint freundlichst Ihr
Freddy Morgengrauen