„Die Briten sind Meister im Rosinenpicken," versuchte Matthias Niedobitek von der Technischen Universität Chemnitz am 16. Juni 2016 in einer Veranstaltung in Leipzig deren Rolle in der EU zu der politischen Debatte zum Brexit zu charakterisieren. Separationsgelüste und nationale Egoismen griffen fortwährend um sich, sagt Anna-Maria Gramatté von der Deutsch-Britischen Gesellschaft Dresden e.V., die ebenfalls auf dieser Veranstaltung in Leipzig sprach. Dass die Briten und Britinnen am 23. Juni 2016 in einem Referendum über ihr Verbleiben in der EU entscheiden, sei davon nur der Gipfel des Eisberges. Sollte das Königreich heute für einen Ausstieg aus der EU votieren, dann hätte das auf die deutscher Versicherer zunächst nur indirekte Auswirkungen über mögliche Turbulenzen auf den Finanzmärkten. Für London als das Mekka der FinTechs, wie Klaus Wiener, der Chefvolkswirt des GDV-Verbands, sagt, wäre mit der London Stock Exchange (LSE) als größte und älteste Börse in Europa ein britischer Ausstieg aus der EU ein großer Verlust und ein Rückschlag für die europäische Integration.

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Unsicherheiten nehmen großen Einfluss

Die Versicherungswirtschaft gilt als ein riesiger Kapitalanleger. Gelder fließen beispielsweise in börsennotierte Unternehmen. Anleger mögen aber so gar keine Unsicherheiten. Diese sind derzeit allerdings mit einem Brexit mehr als vorhanden. Da bisher noch kein anderes Land aus der EU ausgestiegen ist, herrschen neben verwaltungstechnischen Unklarheiten auch Ungewissheiten über die Art der zukünftigen Stellung Britanniens. Der Internationale Währungsfonds (IWF) meldete sich dazu am 18. Juni 2016 zu Wort und äußerte, dass Britannien im Falle eines Austritts nicht nur mit den 27 anderen EU-Staaten, sondern auch mit rund 60 Nicht-EU-Ländern seine Handelsbeziehungen neu aushandeln müsse, was lange Jahre dauern dürfte. Durch die dann zunehmenden Unsicherheiten würden auch die Risikoprämien von festverzinslichen Wertpapieren in Britannien steigen.

Indirekte Folgen auf die deutsche Versicherungswirtschaft

Um auf den oben angesprochenen Wechselkurs zurückzukommen, bedeutet das auch, dass das britische Pfund enorm an Wert verlieren könnte. Dies würde sich dann durch fallende Kurse am Aktienmarkt bemerkbar machen und die sich daraus ergebenden Effekte wären letztlich auch hierzulande zu spüren. „Immer wenn die Wahrscheinlichkeit eines Brexits in den Umfragen über 50 Prozent steigt, beobachten wir eine erhebliche Abwertung des Britischen Pfunds gegenüber den meisten anderen wichtigen Währungen (einschließlich des Euros) und einen starken Rückgang der Kurse von Bankaktien. Die Märkte glauben offenbar, dass der Finanzsektor in Großbritannien und in der EU ernsthaft von einem Brexit betroffen sein wird“, sagt Reint E. Gropp, Präsident des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), welches für seine Analysen die Ergebnisse der Meinungsumfrageen im Vorfeld des Referendums als ein Maß für die zu erwartenden Effekte eines Ausstieges herangezogen hat.

„Die Flucht in ,sichere Häfen' würde die ohnehin schon rekordniedrigen Renditen in Deutschland weiter unter Druck setzen,“ erklärt dazu noch einmal Klaus Wiener vom GDV. Nach altem ökonomischen Prinzip, will - als möglich - für jede Investition eine positive Rendite erwirtschaftet werden. Diese wird aber nur da tatsächlich erwirtschaftet, wo auch eine Wertsteigerung erzielt wird. Daher kann die Anlegerreaktion - aus vornehmlich Rendite-stärkeren Anlagen auszusteigen - für die Entwicklung des Aktienkurses hinderlich sein und sich durch Abschwächung möglicher Gewinnprognosen einzelner Unternehmen negativ auf die Renditen auswirken.

Nehme man an, dass es zu einem Austritt kommt, so müssten bei Abwertung des Britischen Pfundes gegenüber dem Dollar, die Briten/innen auf dem Weltmarkt für Waren und Güter mehr ausgeben und könnten folglich weniger einkaufen. Ergo könnte es dazu kommen, dass das Land in Summe weniger produziert als noch zuvor und damit das Wirtschaftswachstum Britanniens schrumpft. Das wiederum würde dann Auswirkungen auf die Aktienkurse aller Unternehmen haben, die in einer Handelsbeziehung mit Britannien stehen. Damit wären die nach Solvency II zu berechnenden Solvenzquoten negativ beeinflusst. „Allerdings dürfte sich der Effekt als vorübergehend erweisen, denn nach der ersten Phase großer Unsicherheit sollten sich die Finanzmärkte auf dem Kontinent stabilisieren,“ prognostiziert Wiener.

Betroffen von dem Szenario wären zirka drei Prozent der gesamten Kapitalanlagen der deutschen Erstversicherer. Dabei handele es sich in erster Linie um Rentenpapiere, die etwa 85 Prozent dieses Portfolios ausmachen, macht Wiener die Situation an Zahlen fest.

Auswirkungen auf britische Versicherer und die dortige Wirtschaft

Die Ratingagentur Moody’s gehe von erheblichen, wenn auch verkraftbaren, Auswirkungen auf die britische Versicherungswirtschaft aus, vor allem auch deswegen, weil die britischen Versicherer den größten Teil ihrer Umsätze auf der Insel generieren. Letztlich sei es schwer zu sagen, wie groß die Effekte für das Wachstum und den Wohlstand der britischen Volkswirtschaft ausfallen werden, so Wiener (GDV). Der IWF rechnet in seinem Basisszenario, das von einem EU-Verbleib Britanniens ausgeht, von Wachstumsraten zwischen 1,9 und 2,2 Prozent. Im Falle des nachteiligsten Szenarios würde die Veränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 2016 um 0,8 Prozentpunkte niedriger als im Basisszenario liegen, meldet n-tv am 18. Juni 2016.

Auswirkungen auf die Wettbewerbssituation

Die Versicherungsbranche sei eine hochregulierte Branche, dies gelte besonders auch für Europa. Das Aufsichtsregime Solvency II ist erst seit wenigen Monaten in Betrieb. Ziel des Projektes Solvency II der EU-Kommission war es, ein weitgehend wettbewerbsneutrales Aufsichtssystem zu schaffen. Folglich hätten die Briten im Falle eines Brexits beim Punkt 'Vereinheitlichung der Wettbewerbsbedingungen' kein Mitgestaltungsrecht mehr. Dies würde sich vor allem nachteilig für die britischen Versicherer auswirken, die weiterhin auf dem Kontinent tätig sein wollen. Bei der Entwicklung und Gestaltung von Solvency II habe sich Britannien sehr stark eingebracht, weiß Wiener (GDV). „Denken sie etwa an die Eigenmittelunterlegung, die für Immobilien gilt. Hier wurde die Preis- und Volatilitätsentwicklung von Immobilien des Großraums London zu Grunde gelegt. Bei einem Austritt Britanniens wird dies zukünftig ganz sicher nicht mehr der Fall sein“, erklärt er die Auswirkungen weiter.

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Angst vor Auswirkung auch bei deutschen Industriefirmen

Mehr als ein Drittel (38 Prozent) der Firmen des Verarbeitenden Gewerbes in Deutschland befürchtet bei einem Brexit negative Auswirkungen auf ihr Geschäft. Dies geht aus einer aktuellen Mitteilung des ifo-Institutes hervor. Insbesondere große Unternehmen mit über 500 Beschäftigten seien unruhig. Hier rechnen sogar 53 Prozent mit negativen Auswirkungen bei einem Brexit. Wenn Unternehmen im Exportgeschäft tätig sind, ist der Anteil ebenfalls leicht höher als im Schnitt, nämlich 41 Prozent. Viele sehen darin die Gefahr, dass mit einem Austritt Britanniens nicht nur das das europäische Projekt beschädigt wäre, sondern damit auch der Euro deutlich an Wert verlieren sollte. Kurzfristig mag das wegen der besseren preislichen Wettbewerbsfähigkeit bei Exporte und dem Aufwärtsdruck auf die Importpreise, Stichwort: Vermeidung von Deflation, durchaus gewünscht sein. Mittelfristig sei eine schwache Währung aber immer ein Nachteil für eine Volkswirtschaft – und ein Zeichen wirtschaftlicher Schwäche, fasst Wiener (GDV) die Bedeutung für die Wirtschaft zusammen.

gdv.de, IFW, ifo Institut, faz.net