vdek: "Weiterhin bestehen Wettbewerbsverzerrungen"

Quelle: vdek/Georg J. Lopata

Der Morbi-RSA, ein finanzieller Ausgleichsmechanismus im deutschen Gesundheitswesen, geriet in der Vergangeheit wiederholt in die Kritik. Neben seiner Anfälligkeit für Betrug war es insbesondere eine Ungerechtigkeit im Wettbewerb der Krankenkassen, die kritisiert wurde. Eine Reform unter Gesundheitsminister Jens Spahn sollte Abhilfe schaffen. Wurden die Ziele aber erreicht? Versicherungsbote fragte bei Ulrike Elsner nach, Vorstandsvorsitzende des Verbands der Ersatzkassen (vdek).

Versicherrungsbote: In der Vergangenheit haben Sie in einer gemeinsamen Pressemitteilung auf erhebliche Fehlsteuerungen im Morbi-RSA hingewiesen, die zu einer massiven Umverteilung von Geldern führten, insbesondere zugunsten der AOKn und zulasten der Ersatzkassen. Was waren die Hauptfaktoren, die zu diesem Umverteilungsproblem geführt haben?

Ulrike Elsner: In der Tat kam es nach Inkrafttreten der Morbi-RSA-Reform im Jahre 2009 zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Seitdem wiesen unter den Kassenarten die Ortskrankenkassen (AOK) eine hohe Überdeckung ihrer Ausgaben und die Ersatzkassen eine deutliche Unterdeckung auf, die sich auf beiden Seiten über die Jahre hinweg immer weiter vergrößerte. Die Überdeckung der AOK erreichte 2017 ihren Höhepunkt mit 102,0 Prozent, während die Ersatzkassen eine Unterdeckung von 98,8 Prozent ihrer Leistungsausgaben hatten. Das heißt, beim RSA-Schlussausgleich 2017 haben die AOK aus dem Gesundheitsfonds 1,347 Milliarden Euro mehr erhalten als sie zur Deckung ihrer Leistungsausgaben benötigten, die Ersatzkassen 931 Millionen Euro zu wenig. Ähnlich erging es Betriebs- und Innungskrankenkassen, sodass es zu einem Bündnis der Kassenarten vdek, BKK und IKK für eine Reform des Morbi-RSA gekommen ist.

Die Verzerrungen waren so offenkundig, dass der Gesetzgeber den Morbi-RSA mit dem „Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-FKG) in 2020 erneut reformiert hat. Wichtigste Faktoren waren aus Sicht der Ersatzkassen die Einführung einer Regionalkomponente, eines Risikopools und die Streichung von Zuschlägen für Erwerbsminderungsrentner.

Regionale Unterschiede der Kosten- und Versorgungsstrukturen wurden im alten Morbi-RSA nicht hinreichend berücksichtigt und führten zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Krankenkassen. Der Gesetzgeber ist den Auffassungen der wissenschaftlichen Gutachten und der Ersatzkassen richtigerweise gefolgt, dass die Einführung einer Regionalkomponente im RSA nötig ist, um regionale Verzerrungen auszugleichen. Die Regionalkomponente gleicht nun die finanziellen Belastungen zwischen den Krankenkassen aus, die auf regional unterschiedliche Versicherungsbedarfe zurückzuführen sind.

Von weiterer erheblicher Relevanz für einen faireren und gerechteren RSA war die Einführung eines Hochrisikopools, der Krankenkassen mit Versicherten mit sehr hohen Leistungsausgaben (z. B. durch sehr teure, neue Arzneimitteltherapien) über einem bestimmten Schwellenwert entlastet. Dadurch erhalten Krankenkassen nun Zuweisungen für extrem teure Krankheiten, deren entstehende Ausgaben im Morbi-RSA bei weitem nicht abgedeckt waren. Durch die Prospektivität des Morbi-RSA waren Ausgaben von Versicherten mit akuten Erkrankungen, die einer kurzen, aber sehr teuren Behandlung erfordern und Versicherte, die im betreffenden Jahr versterben und hohe Behandlungskosten kurz vor ihrem Tod aufweisen, nicht ausreichend gedeckt.

Auch die Zuschläge für Erwerbsminderungsrentner:innen als Relikt des „Alt-RSA“ wurden im Zuge der Reform des Morbi-RSA gestrichen und dadurch Umverteilungsprobleme beseitigt. Die Abschaffung der Erwerbsminderungsrente als Risikomerkmal im Morbi-RSA wurde damit begründet, dass Personengruppen wie Rentner:innen, Nichterwerbstätige und Selbstständige keinen Anspruch auf diese Rentenart haben. Dadurch erhielten Krankenkassen für diese Versicherten bei gleichem Alter und gleicher Komplexität der gesundheitlichen Probleme weniger Zuweisungen. Die Streichung führt deshalb zu einer Gleichbehandlung und beseitigt gleichzeitig Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Krankenkassen

Die Reform des Risikostrukturausgleichs (RSA) trat im April 2020 in Kraft. Haben Sie seitdem eine Veränderung in der Verteilung der Gelder zwischen den Kassenarten festgestellt – insbesondere im Hinblick auf eine gerechtere Verteilung?

Die Reform des Morbi-RSA durch das „Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz“ (GKV-FKG) sorgt für mehr Verteilungsgerechtigkeit und verringert wettbewerblich relevante Über- und Unterdeckungen zwischen den Kassenarten. So hat sich die bestehende hohe Unterdeckung der Betriebskrankenkassen, der Innungskrankenkassen und der Ersatzkassen in 2021 und 2022 verringert, während sich gleichzeitig die sehr hohe Überdeckung der Ortskrankenkassen reduziert hat. Jedoch ist der Zeitraum seit Einführung der Reform sehr kurz, und wir beobachten in den beiden Jahren Schwankungen bei der Entwicklung des Deckungsunterschieds zwischen den Kassenarten. Der Morbi-RSA ist ein lernendes System. Somit bleibt zu beobachten, wie sich die Morbi-RSA-Wirkungen langfristig entwickelt und wo der Gesetzgeber gegebenenfalls erneut gegensteuern muss.

Sehen Sie weiterhin Risiken für eine ungleiche Mittelverteilung oder finanzielle Benachteiligung bestimmter Kassenarten, die durch die Reform möglicherweise nicht vollständig adressiert wurden?

Generell unterliegt der Morbi-RSA einer ständigen Weiterentwicklung. So wird jährlich das Klassifikationsverfahren des Morbi-RSA angepasst und der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesamt für Soziale Sicherung prüft und bewertet Weiterentwicklungsmöglichkeiten zum Morbi-RSA. Darüber hinaus werden aktuell noch Reformen umgesetzt, deren Wirkung wir ab dem Jahresausgleich 2023, der im Herbst 2024 erfolgt, abwarten müssen.

Welche Empfehlungen würde der Verband der Ersatzkassen dem Gesetzgeber für zukünftige RSA-Reformen geben, um die finanzielle Schieflage zwischen den Krankenkassen zu beheben?

Im Mai 2024 hat das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) drei Gutachten zum Morbi-RSA veröffentlicht. In zwei Gutachten setzt der Wissenschaftliche Beirat des BAS Aufträge des Gesetzgebers um, einzelne Wirkungen der Morbi-RSA-Reform, einerseits die Einführung regionaler Merkmale und andererseits den Ausschluss von Risikogruppen im Risikostrukturausgleich, zu untersuchen. Im dritten Gutachten wurde vom BAS der Zusammenhang zwischen Leistungsausgaben früherer Jahre und dem Jahr 2019 als möglichen Weiterentwicklungsaspekt des Morbi-RSA analysiert. Diese Sondergutachten gehen einer Gesamtevaluation der Morbi-RSA-Reform voraus, die für das Jahr 2025 erwartet wird. Bereits jetzt Empfehlungen für weitere RSA-Reformen zu geben, bevor die erfolgte Morbi-RSA-Reform und deren Wirkungen nicht vollständig geprüft sind, ist nicht angezeigt. Stattdessen sollte zunächst die Wirkung der vielfältigen Elemente der Morbi-RSA-Reform abgewartet und die Vorschläge der Gutachten eingehend geprüft werden.

Abschließend: Hat die Reform von 2020 aus Sicht des Verbandes der Ersatzkassen zu einem nachhaltigeren und faireren Wettbewerb zwischen den Krankenkassen geführt, oder gibt es weiterhin dringenden Handlungsbedarf?

Die Morbi-RSA-Reform, die im Rahmen des GKV-FKG umgesetzt wurde, hat zu einem faireren Wettbewerb zwischen den Krankenkassen geführt. Jedoch bestehen weiterhin Wettbewerbsverzerrungen durch unterschiedliche Aufsichtszuständigkeiten für die Krankenkassen. So unterstehen bundesweit geöffnete Krankenkassen (für mehr als drei Bundesländer zuständig) dem Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) als ihre Aufsichtsbehörde und regional geöffnete Krankenkassen (maximal für drei Bundesländer tätig) ihrer jeweiligen Landesbehörde. Es ist eine grundlegende Änderung der derzeitigen zweigliedrigen Aufsichtsstrukturen wichtig, um die nicht gleichgerichtete Aufsichtspraxis auf Bundes- und Landesebene sowie die hierdurch entstandenen Verwerfungen zu beseitigen. Eine Bündelung der Aufsichtszuständigkeit beim BAS wäre mit Blick auf die Wettbewerbsneutralität und Verwaltungseffizienz optimal.