Ein Schweizer Hilfsarbeiter gibt über Jahre keine Steuererklärung ab, weil er unter einer Lese- und Rechtschreibschwäche leidet. Er verschuldet sich, weil der Fiskus hunderttausende Euro zu viel von ihm fordert und er die Steuern dennoch brav zahlt. Doch als der Mann schließlich vor den Scherben seiner Existenz steht, kommt ihm die Gemeinde zu Hilfe - ein Beispiel für gelungene direkte Demokratie.
Dürnten ist eine kleines idyllisches Örtchen in der Nähe des Zürichsees. Kaum 7.200 Einwohner wohnen dort, es gibt ein Dorfzentrum und eine Kirche, Wald und Feld reichen bis in die Ortschaft hinein. Die einzige Bahnstrecke nach Dürnten wurde bereits 1948 aufgegeben, weil sie sich wirtschaftlich nicht rentierte, seitdem wird der Nahverkehr mit zwei Buslinien bedient. Als Sehenswürdigkeiten werden auf der Webseite der Gemeinde ein Gasthaus, ein Pfarrhaus und ein Nähmaschinen-Museum genannt, als Besonderheit ein türkischer Supermarkt.
Mann gab aufgrund einer Erkrankung nie Steuererklärung ab
Doch nun hat sich in Dürnten eine beinahe wundersame Geschichte zugetragen, die den Ort überregional in die Schlagzeilen brachte. Es ist die Geschichte von Ernst Suter, einem 42jährigen Hilfsarbeiter, der an Legasthenie leidet. Weil sich der Mann für seine Lese- und Rechtsschreibschwäche schämte, gab er noch nie in seinem Leben eine Steuererklärung ab – und das wurde ihm zum Verhängnis, wie die NZZ berichtet.
Reicht ein Schweizer keine Steuererklärung ein, schätzt die kantonale Steuerverwaltung seine Einkommensverhältnisse. Wie auch in Deutschland kann diese Steuerschätzung schnell zu Ungunsten des Betroffenen steigen, wenn dieser keinen Widerspruch einlegt. Dann nämlich geht der Fiskus davon aus, zu niedrig geschätzt zu haben.
Im Jahr 2000 schätzte das Finanzamt Suders Einkommen auf 36.000 Franken, er zahlte gut 3.200 Franken an Steuern. Im Jahr 2001 setzte das Amt schon ein Einkommen von 70.000 Franken an. 2005 dann 100.000 Franken. 2010 schließlich 300.000 Franken, 2012 gar 480.000 Franken. Suters Steuerschuld stieg und stieg. Er sollte Abgaben auf ein Einkommen zahlen, das er nie verdient hatte, mit seinem Hilfsjobs nicht verdienen kann. Seine Steuerlast kletterte auf über 100.000 Franken im Jahr.
Aber weil Ernst Suder nicht nur Legastheniker ist, sondern auch ein guter Bürger, zahlte er die geforderten Steuern. Erst mit Ersparnissen. Dann verkaufte er sein Land. Suter verschuldete sich und stand vor den Scherben seiner Existenz, hätte sogar das geerbte Haus seiner Großeltern abtreten müssen. Das alles nur, weil er nicht in der Lage war, eine Steuererklärung abzugeben – und sich nicht traute, dies zuzugeben.
Gemeinderat entschließt sich, Suter 250.000 Franken auszuzahlen
An dieser Stelle hätte die Geschichte nun enden können. Sie hätte ein Gleichnis sein können für einen unnachgiebigen Fiskus und das Schicksal von Menschen mit Beeinträchtigung, die in den Mühlen der Bürokratie zerrieben werden. Die Einspruchsfristen für eine mögliche Steuerrückerstattung waren lange verstrichen. Keine Chance, noch Ansprüche gegen das Finanzamt geltend zu machen.
Doch die Schweiz ist kein Land wie jedes andere, sondern ein Staat mit einer ausgeprägten direkten Demokratie. Und so kam es doch ganz anders. Nachdem der Fall des unglücklichen Ernst Suter Ende 2014 durch alle Medien ging, entschlossen sich die Bürger des kleinen Örtchens Dürnten, ihrem Mitbürger zu helfen. Ein Komitee wurde gegründet und eine Gemeinderatssitzung abgehalten, auf der die Einwohner beschlossen, die zu viel gezahlten Steuern in Höhe von 250.000 Franken (rund 238.000 Euro) aus dem Gemeindebudget zurückzugeben. Also quasi zu schenken – ohne Gegenleistung, einfach so.
Auf diese Weise wurde der Fall des Ernst Suter keine Parabel auf die Unerbittlichkeit der Bürokratie, sondern ein schönes Beispiel für Solidarität und Mitmenschlichkeit. Was Suter vom Finanzamt nicht zurückverlangen konnte, erhielt er nun per Mehrheitsbeschluss von den Bürgern seines Wohnortes zurück. Da ist es eine besondere Pointe, dass der Fiskus für diese Gabe noch einmal ausgetrickst werden musste. Denn für eine Schenkung hätte Suter 57.000 Franken an Schenkungssteuer zahlen müssen. Also wurde das überwiesene Geld einfach zur „Genugtuung“ erklärt, was rechtens ist – förmlich eine Art Schmerzensgeld oder Wiedergutmachung.
Auch der Fiskus zeigte sich noch einmal gnädig: Er erließ dem Hilfsarbeiter seine restlichen Steuerforderungen aus den vorherigen Jahren. Generell aber habe der Steuerzahler eine Bringschuld und müsse regelmäßig eine Erklärung abgeben, mahnte Gemeindepräsident Hubert Rüegg gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung. Schließlich sei man keine Sozialbehörde und die Mitarbeiter der kantonalen Steuerverwaltung müssten unter großem Zeitdruck arbeiten. „Da gibt es keine Luft für zusätzliche Abklärungen“. Ernst Suter hat jetzt übrigens eine Steuerberaterin.