Wenig Wachstum, Niedrigzins, hohe Verschuldung: Warum die aktuelle Geldpolitik der Zentralbanken einem Gefangenendilemma gleicht, erklärt Hans-Jörg Naumer, Global Head of Capital Markets & Thematic Research der Investmentfondsgesellschaft Allianz Global Investors in Frankfurt am Main, in seinem Gastkommentar.
Ein Beitrag aus dem Versicherungsbote-Fachmagazin 01/2016
Sparer müssen heute mehr zurücklegen
Als Antwort auf die Frage, warum die anhaltende Phase „billigen“ Geldes sich weder in stärker steigenden Konjunktur- noch in Verbaucherpreisdaten niedergeschlagen hat, können mehrerlei Argumente angefügt werden.
So dürften die privaten Haushalte, die mehrere Vermögenspreisschocks in Folge der Krisen über die letzten Jahrzehnte durchleben mussten, insgesamt sorgsamer im Ausgabengebaren sein und ihre Sparquote eher höher halten als vor den Krisen – trotz oder gerade auch wegen der niedrigen Zinsen auf Spareinlagen. Niedrige Zinsen müssen nicht, wie geldpolitisch erwünscht, zu einem höheren Konsum führen, da die Opportunitätskosten des Konsums mit den niedrigen Zinsen gesunken sind. Sie können genau das Gegenteil bewirken: Da der Ertrag auf das angelegte Kapital geringer geworden ist, muss heute mehr zurückgelegt werden, um morgen das ursprünglich benötigte Kapital zur Verfügung zu haben.
Die fiskalische Situation lässt in vielen Ländern kaum eine höhere Neuverschuldung zu. Offen bleibt auch die Frage, ob steigende Staatsausgaben zu einem Multiplikator führen würden, der größer als eins ist – also dass tatsächlich mehr Wachstum entsteht, als dies dem fiskalischen Impuls entspricht. Strukturreformen sind oft schwierig durchzusetzen und langwierig. Bleibt der Wechselkurs. Die Importe des einen sind die Exporte des anderen. Wer es schafft, seinen Wechselkurs zu schwächen, darf Exportzuwächse erwarten – es sei denn, auch die Gegenseite setzt auf dieses Instrument. Da Geldpolitik in ihrer Konsequenz, ob gewollt oder ungewollt, aber immer auch Wechselkurspolitik ist, gerät die Geldpolitik schnell in die Situation eines Gefangenendilemmas.
Das Paradigma des Gefangenendilemmas ist schnell erklärt: Zwei (zur Vereinfachung) Spieler können miteinander kooperieren oder versuchen, zu Lasten des anderen Vorteile zu erzielen. Beide wissen: Wenn sie miteinander kooperieren, stellen sie sich beide besser, als in dem Fall, dass der andere sie verrät und es zu einem Schuldspruch kommt. Das Problem ist nur: Verrät einer den anderen, aber der andere vertraut auf eine unausgesprochene Kooperation (beide können sich nur ohne gegenseitige Absprache entscheiden), dann steht der Verräter besser da als im Falle gegenseitiger Kooperation. Wie verhalten sich die beiden also, wenn jeder einen Anreiz hat, sich zu Lasten des anderen besser zu stellen, in der Hoffnung, dass dieser nicht mit der gleichen Münze zurückzahlt? Denn tut er dies, dann stellen sich beide deutlich schlechter (und wandern ohne Strafminderung ins Gefängnis).
Die Parallelen zur Geldpolitik liegen auf der Hand. Raghuram Rajan, der Gouverneur der Zentralbank Indiens, hat sie im Herbst 2015 auf einer Tagung in Frankfurt noch einmal dargelegt. Wenn die Zentralbanken davon ausgehen, dass Abwertungswettläufe auf Dauer bestenfalls ein Null-, eher aber ein Minussummenspiel sind, ist die Empfehlung klar: Am besten gar nicht erst damit beginnen. Der Nachteil ist nur: Anreize aus diesem Stillhalten auszubrechen gibt es immer. Die anderen Zentralbanken könnten ja trotzdem länger stillhalten, zumal wenn eine Wechselkursstrategie nicht unmittelbar zu erkennen ist, die geldpolitischen Lockerungsmaßnahmen also offensichtlich nur der Verhinderung von z. B. einer Deflation dienen sollen. Hat dieser Wettlauf aber erst einmal begonnen, was umso leichter fällt, wenn sich die Inflationsraten fast überall in der Nähe der Nullgrenze oder darunter bewegen, dann ist es schwer, wieder auszusteigen.
Abwertungsspirale
Die Zentralbanken dürften sich also dazu veranlasst sehen, die Abwertungsspirale lieber weiter nach unten zu drehen, als Gefahr zu laufen, zu früh auszusteigen und dann den hohen Preis einer Aufwertung alleine zu zahlen. Motto: Eine Lockerung der Geldpolitik bringt vielleicht nicht viel, aber besser, als sich einer Aufwertung des Wechselkurses auszusetzen, ist sie allemal.
Aus dem Paradigma des Gefangenendilemmas lassen sich mit Blick auf die Kapitalmärkte eine ganze Reihe an Implikationen ableiten: Es hilft nicht nur die über 700 Zinssenkungen zu erklären, welche die Zentralbanken seit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 rund um den Globus vorgenommen haben, sondern u.a. auch die zögerliche Haltung der Fed, wenn es darum geht die Leitzinsanhebung weiter anzuheben. „Im Zweifel lieber länger niedriger“ dürfte das Motto der G4-Geldpolitik lauten. Die Niedrig-/Negativzinsphase ist nicht nur deshalb kein kurzfristiges Phänomen. Zwar bleibt die Fed auf Sicht die einzige Zentralbank, bei der Anhebungen zu erwarten sind, aber dies sollten nur zögerlich und widerwillig vorgenommen werden, was auch das Aufwertungspotenzial des US-Dollars beschränkt.
Neues Helikopter-Geld?
Niedrige Zinsen und hohe Liquidität, die nach Rendite sucht – das bleibt der Treibsatz für risikoreichere Vermögensklassen. Und wer weiß: Vielleicht wird am Ende sogar mit dem „Helikopter-Geld“ ein ganz neues Kapitel der Finanziellen Repression aufgeschlagen. Wenn die Zentralbanken Geld drucken um die Staaten direkt zu finanzieren, dann ist die fiskalische Dominanz der Geldpolitik endgültig. EZB-Chef Mario Draghi hat Helikopter-Geld auf seiner Pressekonferenz Mitte März immerhin als „very interesting concept“ beschrieben. Märkte wie Anleger bleiben „Gefangene“ der globalen Geldpolitik.