Der digitale Wandel hat die Versicherungsbranche reichlich spät ereilt – und kalt erwischt. Im einst so beschaulichen Feld ist ein regelrechter Tumult ausgebrochen. Denn Big Data birgt für die Branche gleichermaßen Chancen wie Gefahren.
Die Versicherungsbranche sei „die letzte Bastion des 19. Jahrhunderts“, ließ Andrew Rear neulich verlauten, seines Zeichens Leiter der Geschäftssparte Digital Partners bei Munich Re. Das mag überspitzt sein – Tatsache ist jedoch, dass der Versicherungsmarkt noch vor wenigen Jahren ein recht beschauliches Terrain war. Diese Zeiten sind vorbei. Der digitale Wandel ist in der Branche angekommen. Und mit ihm eine ganze Fülle neuer Möglichkeiten, Geschäftsmodelle, Apps, Vergleichsportale und Start-ups, die den Versicherungsriesen wertvolle Teile der Verwertungskette abluchsen wollen. So schnell geht diese Entwicklung, dass selbst die großen Player ins Wanken geraten. „Wir nehmen uns in der Branche eigentlich nur noch als Getriebene wahr“, sagte der deutsche Chef des französischen Versicherungsgiganten Axa Anfang des Jahres am Rande einer Versicherungstagung.
Ein Wachstumsmarkt mit enormen Potenzialen
Neben dem immer wichtigeren Onlinemarkt, dessen Absatz sich in den letzten zehn Jahren vervierfacht hat, sorgt in der Branche derzeit kein anderes Schlagwort für so viel Aufregung wie Big Data. Denn die Versicherungen haben ein geradezu natürliches Interesse, für ihr Geschäft so viele Daten auszuwerten wie möglich. Die Boston Consoulting Group und die US-amerikanische Bank Morgan Stanley haben errechnet, dass Versicherungen durch die Nutzung von Echtzeitdaten aus IoT-Geräten (Internet of Things) gut die Hälfte der Forderungen vermeiden könnten. Nach Schätzung der Studie belaufen sich die möglichen Einsparungen allein in den USA auf die gewaltige Summe von neun Milliarden Dollar im Jahr.
Risikominimierung durch IoT-Geräte
Ein Beispiel: Im Bereich „Smart Home“ können Frühwarnsysteme als Feuermelder fungieren oder Wasserrohrbrüche melden und diese Daten in Echtzeit weitervermitteln. Mit diesen präventiven Maßnahmen ließen sich die Kosten für die Versicherer enorm senken – so sehr, dass es sich für die Versicherer sogar lohnen könnte, dafür eigene Geräte auf den Markt zu bringen. Technisch ist dies seit einigen Jahren ohne Weiteres möglich. Allein die Bedingungen für eine Nutzung der Technologie müssten geschaffen werden. So müssten die Versicherungen zunächst einmal Kapazitäten aufbauen und Prozesse schaffen, um mit solchen enormen Datenmengen überhaupt umzugehen. Darüber hinaus muss auch das Internet mitspielen – in Deutschland zum Beispiel dürfte das Mobilfunknetz noch zu schwach ausgebaut sein, um solche IoT-Lösungen flächendeckend zu ermöglichen.
Gesundheitsdaten wecken Begehrlichkeiten
Auf der anderen Seite birgt Big Data jedoch auch durchaus Gefahren, wie das Beispiel Gesundheitsdaten zeigt. Diese sind – vor allem in den USA, wo vergleichsweise geringe Datenschutzstandards herrschen – ein noch weitaus größerer Markt. In den USA werden Patientendaten von Ärzten, Krankenhäusern oder Apotheken legal weiterverkauft oder getauscht. Die Daten sind zwar anonymisiert, ermöglichen aber dennoch eine weitaus präzisere Grundlage zur Risikoberechnung, als dies bislang denkbar war. Mit der nun verfügbaren Datenmenge lassen sich die Modelle erheblich verfeinern – von groben demografischen Kategorien bis hinunter zum einzelnen Menschen. Dieser könnte nun anhand unzähliger Merkmale (Sport, Ernährung, Freizeitverhalten) mit flexiblen Tarifen entweder belohnt oder sanktioniert werden – so das Zukunftsszenario.
So verlockend diese Vision der Risikominimierung für eine Versicherung ist, so problematisch ist diese Entwicklung auch. Denn durch die Verknüpfung mehrerer Datensätze ist es heute problemlos möglich, einzelne Patienten zu identifizieren, auch wenn diese in den Akten anonymisiert sind. Dies birgt die Gefahr, die Privatsphäre und die ärztliche Schweigepflicht schlichtweg auszuhebeln. So wendete sich der bekannte Gesundheitsökonom Adam Tanner jüngst in einem eindringlichen Appell (hier der Originaltext) an die Öffentlichkeit, das Vertrauen der Patienten nicht blind dem technologischen Fortschritt zu opfern.
Die Versicherung muss sich neu erfinden
In der Branche setzt sich langsam aber sicher die Erkenntnis durch, dass die Versicherer ihr Geschäftsmodell neu erfinden müssen, um sich dem digitalen Wandel anzupassen. Praktisch jeder Versicherungskonzern hat mittlerweile ein Innovations-Lab eingerichtet, das neue, digitale Lösungen entwickeln soll. Mit einem kleinen Spielraum für Experimente ist es allerdings nicht getan – ohne wirkliche Umstrukturierung wird die Transformation nicht vonstattengehen.
Das betrifft auch die Personalstruktur: Schon jetzt spielen digitale Kompetenzen in den Stellenausschreibungen im Versicherungswesen eine wachsende Rolle. Eine junge, digitalaffine Generation ins Boot zu holen und den Nachwuchs zu fördern, ist notwendiger Bestandteil jeder Zukunftsstrategie. Nicht zuletzt, um im unsicheren Terrain des digitalen Wandels einen Kompass zu entwickeln, der die Unternehmenswerte ins Informationszeitalter rettet. Denn die beiden genannten Anwendungsbeispiele zeigen beides: Big Data stellt eine enorme Chance für die Versicherungsbranche dar – und birgt gleichzeitig einige Gefahren.