Private Berufsunfähigkeitsversicherungen haben vage und intransparente Vertragswerke - mit dieser Analyse trat das Beratungshaus PremiumCircle anlässlich einer eigenen Studie an die Öffentlichkeit. Der Versicherungsbote hat sich mit Geschäftsführer Claus-Dieter Gorr unterhalten, ob er ein Marktversagen sieht - und was dieses für Vermittler bedeutet.
In der Berufsunfähigkeitsversicherung sorgen unklare und unverbindliche Verträge dafür, dass sowohl Vermittler als auch Verbraucher kaum das Leistungsverhalten der Tarife einschätzen und vergleichen können. Zu diesem bitteren Fazit kommt eine Erhebung aus Ihrem Haus (Versicherungsbote berichtete). Wie schätzen Sie die Ergebnisse der Erhebung ein?
Herr Claus-Dieter Gorr: Die Ergebnisse zum tatsächlichen Leistungsverhalten in der Berufsunfähigkeitsversicherung zeigen, dass die unternehmensindividuellen Auslegungen der unbestimmten Begriffe und unverbindlichen Formulierungen in einem weiten Korridor zu verorten sind. Die gleichmachenden Testsiegel der letzten Jahre, mit denen sich die Versicherer schmücken, haben diesen Umstand schlichtweg nicht berücksichtigt und somit ein falsches Bild von der tatsächlichen Leistungsbereitschaft gezeichnet. Sie haben in die Irre geführt. Jetzt wissen wir, dass für die Auswahlbeauftragten (also die Vermittler) und die schutzbedürftigen Kunden keinerlei faktische Orientierung besteht. Für die kundenorientierten Versicherungsunternehmen bedeutet dies, dass sie im ersten Schritt ihre Leistungskennziffern proaktiv offenlegen müssen, um identifizierbar zu sein.
Warum haben Ihrer Einschätzung nach nicht alle Unternehmen die Fragen beantwortet?
Das fragen sie mal besser die Unternehmen selbst.
Laut Statistischem Jahrbuch des GDV haben rund 12,9 Millionen Bundesbürger eine Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) abgeschlossen. Damit verfügt nur ein Bruchteil der Erwerbstätigen in Deutschland über einen entsprechenden Schutz – obwohl ihn selbst Verbraucherschützer für unverzichtbar halten. Was sind die Gründe für diese Zurückhaltung?
Ein schutzbedürftiger Kunde braucht doch nur folgende Fragen zu stellen: Wann bin ich berufsunfähig? Wie muss ich das genau nachweisen? Wie lange bekomme ich Geld? Eigentlich ganz logische und nachvollziehbare Fragestellungen. Das Problem daran: Keine der Fragen kann aus den Vertragsbedingungen heraus sachgerecht und ohne zu fabulieren beantwortet werden. Der Anteil der Menschen, die ein unverständliches Produkt auf Vertrauensbasis nach dem „Prinzip Hoffnung“ oder als „Streitoption“ kaufen, ist eben gering. Unsere Prognose ist da ganz klar: wir werden beim jetzigen Produktdesign keinesfalls einen „Run“ erleben, das Gegenteil wird passieren.
Wolfgang Schuldzinski, Chef der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, kritisierte bereits 2015, dass private Berufsunfähigkeits-Versicherer die entstandene Lücke nicht schließen können. Schuld sei neben den strengen Annahmerichtlinien auch die fehlende Qualifikation der Vermittler. Wie stehen Sie zu diesen Aussagen?
Das kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man das sieht. Positiv formuliert waren die auswahlbeauftragten Vermittler vielleicht doch intelligenter, als Herr Schuldzinski meint. Vielleicht wollten Sie ihre schutzbedürftigen Kunden ja vor möglichen Enttäuschungen im Leistungsfall bewahren. Mir hat ein Kölner Makler vor einiger Zeit einmal gesagt, er käme sich vor wie im Mittelalter. Im BU-Leistungsfall stünde er quasi mit Ritterrüstung vor seinem schutzbedürftigen Kunden und kämpfe mit Schwert und Armbrust. Von vorne kämen allerdings die Panzer - in Person hochspezialisierte Anwälte der Versicherer - auf ihn zugerollt und er sei gegen diese Waffen dann doch eher machtlos. Diesem ungleichen Kampf wolle er sich nicht weiter aussetzen – er vermittle keine BU mehr. Andersherum betrachtet hätte eine laute „Kommunikation“ der Vermittlerschaft die Versicherer vielleicht früher schon motiviert, die Produkte verbindlicher zu formulieren. Zu viele Vermittler haben sich überwiegend auf Siegel und sogenannte „Regulierungskompetenzen“ verlassen. Die Annahmerichtlinien fallen bei der niedrigen Abdeckungsquote eher weniger ins Gewicht.
Hat die Versicherungswirtschaft beim Thema Arbeitskraftabsicherung versagt? (Warum?)
Ja, man kann hier schon vom Marktversagen sprechen. Es gibt zur Absicherung der Arbeitskraft viele unterschiedliche Produkte. Angefangen von der Unfallversicherung, über die Krankentagegeldversicherung, die BU, EU, Grundfähigkeitsversicherung, Dread Disease, Multirisk oder Pflegeversicherung. Alle Produkte haben unterschiedlichste Zugangsvoraussetzungen, Höchstgrenzen und Leistungsdauern. Aber eines haben sie – vielleicht mit einschränkenden Ausnahmen bei der Unfall- und Pflegeversicherung - gemein: Sie haben in weiten Teilen unübersichtliche, unverständliche, unverbindliche und lückenhafte Vertragswerke. Es gibt aktuell so gut wie kein Produkt, das man eben aus der Tasche ziehen kann um qualifizierten und bedarfsgerechten Einkommensschutz zu bieten. Hinzu kommt, dass die diesbezügliche Vermittlerqualifikation im Kern meistens nicht über Werbesprüche hinauskommt. Wer soll sich da an was orientieren? Die Branche hat es versäumt, ehrliche, verständliche, konsistente und lebensbegleitende - oder zumindest modulare - Absicherungsprodukte zu entwickeln. Das fällt ihr jetzt – auch politisch – auf die Füße.
Die zunehmende Berufsgruppen-Differenzierung in den letzten Jahren macht es Vermittlern immer schwerer Risikoberufe abzusichern. Wie wird sich das Thema in Zukunft entwickeln?
Nach unserer Einschätzung wird sich das wieder zurückentwickeln. Die Kernherausforderung wird aber darin liegen, die Leistungsgrundlage des namentlich als „Berufsunfähigkeitsversicherung“ titulierten Produktes so zu präzisieren, das Auswahlbeauftragte wie Schutzbedürftige wissen was konkret versichert ist. Aktuell ist es keine Berufsunfähigkeitsversicherung, sondern eher eine „Arbeitsplatzrahmenbedingungsversicherung“. Sie heißt nur anders.
Wie kann man diese Probleme lösen?
Im Wesentlichen durch eine verbindliche Leistungsbeschreibung des versicherten Risikos, klar definierte Mitwirkungs- und Nachweispflichten, sowie einen objektivierten Leistungsfeststellungsprozess.
Die Fragen stellte Björn Bergfeld