Fast jeder zweite Patient auf einer Intensivstation verfügt weder über eine Vorsorgevollmacht noch eine Patientenverfügung, wie eine aktuelle Studie zeigt. Die Folgen können drastisch sein: Kann die Person nicht mehr für sich selbst entscheiden, wird unter Umständen eine fremde Person als Betreuerin oder Betreuer eingesetzt, den Familienangehörigen wird die Entscheidungsgewalt entzogen. Forscher fordern nun eine bessere Aufklärung der Patienten durch Ärzte und Krankenkassen.
Nur jeder zweite Notfallpatient (51 Prozent) auf einer Intensivstation verfügt über eine Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung. Das ergab eine Studie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), für die 998 Patienten auf elf Intensivstationen befragt wurden. „Damit können wir Ärzte viele Patienten weder juristisch abgesichert noch zweifelsfrei in ihrem Sinne behandeln“, sagt Professor Stefan Kluge, Präsidiumsmitglied der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), der auch am Uniklinikum Hamburg tätig ist.
„Jeder Bürger ab 18 Jahren sollte eine Vorsorgevollmacht haben“
Mit einer Patientenverfügung können Menschen konkret festlegen, welche medizinische Behandlung sie wünschen, wenn sie selbst nicht mehr entscheidungsfähig sind: Zum Beispiel, ob man im Falle eines irreparablen Komas künstlich beatmet werden will. In einer Vorsorgevollmacht hingegen kann festgeschrieben werden, welche Aufgaben eine bestimmte Person im Falle einer Notlage erledigen soll. Wer darf auf das Vermögen zugreifen, wenn man nicht mehr selbst entscheiden kann? Wer Post und Briefe annehmen? Wer darf Entscheidungen über lebensverlängernde Maßnahmen treffen?
Intensivmediziner Kluge betont, wie wichtig solche Dokumente sind. „Jeder Bundesbürger ab dem 18. Lebensjahr sollte eine vollständige Vorsorgevollmacht hinterlegt haben. Nur die klärt im Ernstfall, wer für den erkrankten Patienten in Gesundheitsfragen entscheiden darf.“, sagt Kluge. „So kann auch ein fremder Betreuer im Krankenhaus vermieden werden.“
Ein Grund, weshalb viele Bürger solche Dokumente nicht besitzen, sieht Kluge in der fehlenden Aufklärung. So gehen viele Deutsche davon aus, dass automatisch der Ehegatte, Partner oder die Angehörigen entscheiden dürfen, wenn eine Person nicht mehr selbst entscheidungsfähig ist. Das ist aber mitnichten so: In Deutschland gilt ein Selbstbestimmungsrecht, das auch gegenüber den Ehe- und Lebenspartnern greift. Hier besteht die Gefahr, dass ein Gericht eine fremde Person als Vormund für den Patienten einsetzt: Der dann zum Beispiel auch über dessen Finanzen entscheiden kann.
Für Intensivmediziner Kluge belegte die Studie das, was er bei der täglichen Arbeit beobachtet: Im Ernstfall wird bei fehlender Vorsorgevollmacht gerichtlich ein Betreuer für den Patienten ernannt. Dieser muss aber nicht aus dem engsten Familienkreis stammen. Es kann auch eine dem Patienten völlig unbekannte Person sein. Der Hintergrund sei, dass Intensivpatienten oftmals aufgrund der Erkrankungsschwere nicht über invasive Maßnahmen aufgeklärt werden und ihre Zustimmung geben können. Üblicherweise wird daher eine rechtliche Betreuung durch einen nahestehenden Angehörigen oder einen Berufsbetreuer eingerichtet. Eine Vorsorgevollmacht macht das Einsetzen eines gesetzlich bestimmten Betreuers verzichtbar. Damit kann der Patientenwille, sofern er bekannt ist, umgesetzt werden.
Viele Dokumente fehlerhaft und unvollständig
Ein weiteres Ergebnis der Studie: Selbst wenn eine Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung vorlag, waren diese Dokumente oft mangelhaft. 40 Prozent aller vorliegenden Vollmachten sowie 44 Prozent aller Patientenverfügungen seien unvollständig gewesen oder kaum leserlich, berichtet Kluge. Hier besteht die Gefahr, dass ein Gericht die Willenserklärungen nicht anerkennt. In Patientenverfügungen müssten die gewünschten Maßnahmen konkret benannt werden – bei chronischen Erkrankungen „zum Beispiel die Beatmungstherapie bei einem Patienten mit schwerer Lungenerkrankung oder die Dialyse bei einem Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz“, erklärt Kluge.
Der Mediziner berichtet: „Bei einer fehlenden oder unvollständigen Patientenverfügung sind wir auf das Gespräch mit Angehörigen angewiesen. Bislang ist das noch der häufigste Weg, um den Patientenwillen herauszufinden. Problematisch sei es nur, wenn selbst engste Angehörige den eigentlichen Wunsch des Erkrankten nur unsicher wiedergeben können. „Selbst eine mangelhaft ausgefüllte oder nicht interpretierbare Patientenverfügung kann zur Folge haben, dass Ärzte nicht eingreifen dürfen und der Patient gegen seinen Willen mit lebenserhaltenden Maßnahmen versorgt wird.“
Kompetenten Rat einholen!
Damit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung gültig sind, müssen sie schriftlich erstellt werden und auch eigenhändig von der betroffenen Person unterschrieben sein. Eine notarielle Beglaubigung für Vorsorgevollmachten ist nur dann erforderlich, wenn auch Immobiliengeschäfte geregelt werden.
Dennoch raten Experten dazu, sich bei der Ausstellung der Dokumente von einem Fachmann beraten zu lassen, am besten von einem Mediziner und Juristen. Denn schon kleine Unzulänglichkeiten können zu Rechtsstreiten führen. Unverzichtbar sind Angaben zu Ort und Zeit der Dokumenten-Erstellung. Wichtig!: Vorsorgedokumente sollten so aufbewahrt werden, dass sie im Notfall verfügbar und leicht auffindbar sind.
Stefan Kluge sieht auch die Politik, Krankenversicherer und Hausärzte in der Pflicht. So sagten von jenen Patienten, die keine Vorsorge getroffen hatten, 39 Prozent, dass ihnen die entsprechenden Dokumente gar nicht bekannt seien. Grundsätzlich empfehle es sich, eine Patientenverfügung mit dem Hausarzt abzusprechen.
„Wenn wir auf diese Warnung nicht reagieren, werden die unklaren Behandlungsverhältnisse eher zunehmen“, warnt Kluge. Nun müsse die Gesundheitspolitik mit einer nationalen Initiative dafür sorgen, dass Patienten jeden Alters über die Notwendigkeit der Vorsorgevollmacht aufgeklärt werden. „Auch die Hausärzte sind in der Pflicht, ihre Patienten beim Verfassen einer expliziten, deutlichen Patientenverfügung zu unterstützen“, so Kluge.