Das Neugeschäft mit Erwerbsunfähigkeits- und Grundfähigkeits-Versicherungen wächst schneller als das Neugeschäft mit der Berufsunfähigkeitsversicherung - zumindest im Verhältnis zur Gesamtzahl der Verträge. In einem Pressetext wertet der Versicherer-Dachverband GDV dieses Wachstum als Erfolg. Doch Makler hatten wiederholt Kritik an diesen Verträgen geäußert, weil die Absicherung der Arbeitskraft nur auf sehr niedrigem Niveau erfolgt.
Private Erwerbsunfähigkeits- und Grundfähigkeitsrenten gewinnen für den Versicherungsvertrieb zunehmend an Bedeutung. Im Geschäftsjahr 2015 stieg der Bestand an Erwerbsunfähigkeits-Verträgen um 18 Prozent an, so dass zu Stichtag 31.Dezember die Versicherer genau 81.415 Hauptversicherungen im Bestand hatten. Noch steiler ging es bei der Grundfähigkeit nach oben: Hier konnte der Vertragsbestand gar um 28 Prozent ausgebaut werden, auf 52.479 Policen. Das berichtet der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) am Mittwoch in einem Pressetext.
Beide Vertragsarten erlauben es, den Verlust der Arbeitskraft abzusichern. Der GDV als Lobbyverband der Branche beschreibt sie als „gute Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung“. Doch diese Interpretation ist auch in der Vermittlerbranche umstritten. Denn der Schutz erfolgt auf einem sehr niedrigen Niveau.
Kritik vom Makler: Erwerbsunfähigkeitsversicherung mit Nachteilen und Tücken
An Erwerbsunfähigkeits-Policen hat wiederholt Gerd Kemnitz fundierte Kritik geübt, Versicherungsmakler aus dem sächsischen Stollberg. Und auf die Schwächen der Verträge hingewiesen. Das wichtigste Problem: Anders als eine vollwertige Berufsunfähigkeitsversicherung berücksichtigen diese Tarife in der Regel nicht den bisherigen Beruf des Versicherten. Er kann auf jeden anderen Beruf verwiesen werden, wenn er den erlernten Job nicht mehr ausüben kann - auch, wenn die neue Tätigkeit mit einem deutlichen Verlust an Einkommen und Status einher geht (der Versicherungsbote berichtete).
Wenn ein Gynäkologe zum Beispiel infolge einer psychischen Erkrankung nicht mehr operieren kann, aber Schreibtätigkeiten verrichten oder gar als Pförtner arbeiten, muss der Versicherer nicht zahlen, wenn derjenige nur seine Erwerbsunfähigkeit abgesichert hat. Der Versicherte kann auf diese Berufe verwiesen werden.
„Eine Erwerbsunfähigkeitsrente wird in der Regel nur dann gezahlt, wenn die versicherte Person überhaupt keine Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes mehr für mindestens 3 Stunden täglich nachgehen kann“, kritisiert Kemnitz. „Bei der Prüfung auf Erwerbsunfähigkeit bleiben also der bisher ausgeübte Beruf und die bisherige Lebensstellung völlig unberücksichtigt.“
Ein weiteres Manko: In der Regel vollziehen sich Krankheiten langsam und in Schüben. Es kann also sein, dass ein Versicherter mit Erwerbsunfähigkeits-Police zunächst berufsunfähig wird, bis er die Bedingungen für eine Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt. Für die Zeit der Berufsunfähigkeit sehen die meisten Verträge aber keine Beitragsbefreiung vor. Wovon soll der Versicherte dann die Beiträge für seine Versicherung zahlen? Sie können sich schnell auf einen dreistelligen Betrag im Monat beziffern.
Einen noch geringeren Bezug zur Arbeitskraft als EU-Policen bietet die sogenannte Grundfähigkeitsversicherung. Sie zahlt in der Regel eine Rente oder einen Einmalbetrag, wenn der Versicherte bestimmte Grundfähigkeiten wie Hören, Sehen oder Treppensteigen verliert bzw. diese stark eingeschränkt sind. Erschwerend kommt hinzu, dass bei dem Gros der Verträge mehrere Grundfähigkeiten eingeschränkt sein müssen, bis der Versicherer eine Leistung erbringt. Manche Gesellschaften haben den Schutz immerhin derart erweitert, dass sie auch leisten, wenn ein hoher Pflegegrad erreicht wird.
Berufsunfähigkeitsversicherung erste Wahl
Vor diesem Hintergrund sind sowohl Erwerbs- als auch Grundfähigkeitsversicherungen keine vollwertige Alternativen zum BU-Schutz. Doch das Neugeschäft mit diesen beiden Vertragsarten wuchs im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bestände deutlich schneller: der Absatz von Berufsunfähigkeitsversicherungen konnte 2015 nur um zehn Prozent zulegen (siehe Tabelle).
Grundsätzlich gilt, dass ein eingeschränkter Schutz der Arbeitskraft besser ist als gar keiner. Laut einer Online-Umfrage der Ratingagentur Franke & Bornberg nutzen bereits 92 Prozent der Vermittler derartige Alternativen zum BU-Schutz. Der Versicherungsbote hat beobachtet, dass auf einigen Vermittlerseiten diese Policen angepriesen werden, ohne dass auf ihre Nachteile hingewiesen wird: ein kritisch zu bewertendes Vorgehen und im Zweifel ein Haftungsrisiko.