McKinsey prophezeit massives Vermittlersterben

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Eine neue Studie der Unternehmensberatung McKinsey sagt drastische Umbrüche in der Versicherungsbranche voraus. Schon 2030 soll die Branche weitgehend digitalisiert sein und die Schadenwahrscheinlichkeit eines Versicherten quasi in Echtzeit von künstlicher Intelligenz (KI) gemessen und bearbeitet werden können. Für Vermittler wie Schadenbearbeiter bedeutet dies, dass ein Großteil von ihnen schonmal den Gang zum Jobcenter planen kann.

Geht es um waghalsige Zukunftsszenarien der Versicherungsbranche, lassen sich Beratungsunternehmen derzeit nicht lumpen. Erst in der letzten Woche stellte das Schweizer IT-Haus Adcubum eine Studie vor, wonach schon in zehn bis fünfzehn Jahren Versicherungsvermittler quasi überflüssig sein werden, weil ihr Job auch von Alexa, Siri und Co. ausgeführt werden kann (der Versicherungsbote berichtete). Fast zeitgleich kommt auch McKinsey mit einer Studie um die Ecke, die den Vermittler aus Fleisch und Blut für verzichtbar erklärt. Was die Berater da entfalten, dürfte nicht nur Vermittler erschaudern lassen, sondern auch Datenschützer.

Der Versicherer weist den am wenigsten unfallträchtigen Weg

Um zu zeigen, wie sich die Versicherungswelt im Jahr 2030 geändert haben wird, wählt McKinsey das Beispiel von Scott, einem vermeintlich typischen Kfz-Versicherungskunden der Zukunft (Studie in englischer Sprache hier veröffentlicht). Scott hat einen Geschäftstermin am anderen Ende der Stadt. Um dort hinzukommen, setzt er sich in sein Auto, welches autonom angefahren kommt - kein Fahrer wäre vonnöten. Die künstliche Intelligenz erlaubt es, dass das Fahrzeug sich selbst steuert - man muss nur den Zielort ansagen.

Das aber will Scott nicht, er will diesmal selbst fahren. Also das Auto steuern und lenken, so richtig mit Lenkrad und auf eigene Gefahr. Also wählt Scott den „Active“-Modus seines Autos aus. Wer nun aber glaubt, dass Scott einfach Gas gibt und losfährt, der irrt. Sein persönlicher Fahrassistent schaltet sich zu und schlägt Scott eine Route vor, mit der er zum Ziel gelangen kann. Der Routenplaner sorgt auch gleich dafür, dass die geplante Strecke an Scotts Kfz-Versicherer übermittelt wird. Nun aber fährt Scott immer noch nicht los.

Es schaltet sich nun der Kfz-Versicherer zu und teilt Scott mit, dass er eine geringere Versicherungsprämie zahlen müsste, wenn er einen anderen Weg wählt. Und schlägt auch gleich eine alternative Strecke vor, auf der statistisch weniger Unfälle geschehen. Vier bis acht Prozent Ersparnis sind drin. Dabei rechnet die Kfz-Versicherung nicht nur den Streckenverlauf ein. Sie kann auch genau ermitteln, wie viele Fahrzeuge soeben auf der Route unterwegs sind und wie sie sich bewegen. Zugleich teilt der Versicherer mit, dass sich Scotts Lebensversicherungs-Police um zwei Prozent verteuern würde, wenn er doch auf den gefährlicheren Weg beharrt. Die Versicherungsprämien werden automatisch von seinem Konto abgebucht.

Der total überwachte Kunde?

An dieser Stelle möchte man bereits „Stopp“ rufen. Was McKinsey hier beschreibt, ist ein Mensch, der immer und überall Daten an Dienstleister weitergibt und sendet, ganz gleich, wo er sich befindet: auf dem Weg zu einem Geschäftstermin, in der eigenen Wohnung, sogar im eigenen Bett. „Pay as you live“ heißt dieser Ansatz, der von den Beratern von McKinsey aber im Extrem beschrieben wird. Bei diesen Tarifen erklärt sich der Versicherungsnehmer bereit, seinen Lebenswandel überwachen zu lassen. Lebt er gesund, wird das durch Nachlässe bei der Prämie honoriert. Und tatsächlich geht McKinsey davon aus, dass der Kunde des Jahres 2030 all diese Daten weitergeben will - Totalüberwachung zum Zwecke der Selbstoptimierung, selbst wenn es dabei kaum mehr zu gewinnen gibt als zwei Prozent Ersparnis bei der Versicherungsprämie.

All das wird laut McKinsey möglich, weil die künstliche Intelligenz es erlaubt, über jedes Individuum eine enorme Menge an Daten zu erheben. Der Mensch lässt seine Fitness mittels Fitnessarmband überwachen, sein Fahrverhalten mittels Telematik-App im Auto, den Haushalt mittels Smart-Home-Technik. Ansätze dazu gibt es ja bereits heute. Doch damit nicht genug. Smarte Technik werde auch zunehmend in Brillen und Schuhen verbaut, behaupten die Studienmacher. Die Folge ist, dass sich verschiedene Branchen auch besser untereinander austauschen können, besser miteinander vernetzen, den Kunden besser verstehen lernen. Und ihm in Echtzeit passgenaue Produkte anbieten können.

Zusätzlich hat sich im Jahr 2030 die Robotik durchgesetzt, prophezeit McKinsey. Als Scott auf seinem Weg zum Geschäftstermin einen Unfall baut und auf dem Parkplatz ein Verkehrsschild rammt, berechnet der Versicherer mittels integrierter Diagnosesysteme am Wagen, wie hoch der Schaden ist. Innerhalb weniger Sekunden bekommt Scott auf dem Bildschirm seines Fahrzeuges die Schadenkosten eingeblendet - und die Information, dass der Versicherer dafür zahlt. Der Versicherer hat außerdem eine Drohne auf dem Weg geschickt, die überprüft, ob das Auto noch die Rückfahrt bewältigen kann. Ist das nicht der Fall, bekommt Scott einen Ersatzwagen zur Verfügung gestellt.

Versicherungsvermittler wird zum Produktpädagogen

Die Schlussfolgerungen, die McKinsey aus dem Zukunftsszenario gewinnt, sind zunächst wenig überraschend. Angesichts einer durchdigitalisierten Welt, in der sich der Versicherungskunde bereitwillig ausspionieren lässt, wird auch der Versicherungsvertrieb im Jahr 2030 weitgehend entbehrlich sein. Schließlich verdient auch das Beratungshaus gutes Geld damit, dass es aufzeigt, wo Jobs gestrichen werden können.

Alexa ersetzt Herr Kaiser

Smarte Verträge werden es mittels Blockchain-Technologie zukünftig erlauben, die Prämien quasi in Echtzeit anzupassen und auch die Vertragsverwaltung weitestgehend automatisch abzuwickeln, schenkt man McKinsey Glauben. "Der Kauf von kommerziellen Versicherungen wird in ähnlicher Weise beschleunigt, da die Kombination von Drohnen, IoT und anderen verfügbaren Daten ausreichende Informationen für KI-basierte kognitive Modelle liefert, um proaktiv ein verbindliches Angebot zu generieren", heißt es in der Studie. Mit anderen Worten und ohne Techniksprech: Alexa ersetzt Herr Kaiser. Denn wenn Versicherer ohnehin die Daten der Kunden kennen, müssen sie nicht den Umweg über Vermittler gehen, um genau diese Daten zu gewinnen.

Und doch findet sich in der Studie ein interessanter Gedanke: die Rolle jener Vermittler, die sich langfristig durchsetzen können, werde sich dramatisch ändern. Die Vermittler werden keine Verkäufer mehr sein, sondern "Prozessbegleiter und Produktpädagogen“, analysiert McKinsey:

"Der Agent der Zukunft kann fast alle Arten von Deckung verkaufen und Mehrwert schaffen, indem er seinen Kunden hilft, ihre Deckungsportfolios über Erfahrungen, Gesundheit, Leben, Mobilität, persönliches Eigentum und Wohnen zu verwalten. Agenten verwenden intelligente persönliche Assistenten, um ihre Aufgaben zu optimieren, und KI-fähige Bots, um potenzielle Angebote für Kunden zu finden. Diese Tools helfen Agenten dabei, eine wesentlich größere Kundenbasis zu unterstützen, während die Kundeninteraktionen (eine Mischung aus persönlicher, virtueller und digitaler Kommunikation) kürzer und aussagekräftiger werden, da jede Interaktion auf die aktuellen und zukünftigen Bedürfnisse jedes Einzelnen zugeschnitten ist", argumentieren die Autoren der Studie.

Schadenmanagement wird praktisch verschwinden

Zappenduster sieht es hingegen für das Schadenmanagement der Versicherer aus. Im Jahr 2030 seien diese Mitarbeiter fast völlig entbehrlich, prognostiziert McKinsey, 70-90 Prozent der Stellen fallen weg. Schließlich können Sensoren und Drohnen einen Schaden schnell aufnehmen, fotografieren, bewerten, wie das Beispiel von Scott gezeigt hat.

Viele weitere Jobs im Innendienst werden nicht mehr gebraucht. Wurde ein Schaden festgestellt, wird die Schadensumme direkt aufs Konto überwiesen und die Prämie entsprechend angepasst. Intelligente Verträge, die von Blockchain-Technik aktiviert werden, autorisieren sofort Zahlungen. Kein Mitarbeiter muss hier mehr eingreifen. Der Versicherungsaufsicht komme künftig vor allem die Aufgabe zu, die Algorithmen zu überprüfen, die ein Versicherer für Underwriting und Pricing nutzt.

Letztendlich entstehen nach der Prognose von McKinsey hochindividualisierte Verträge, die genau das Risiko des jeweiligen Verbrauchers abbilden. Jederzeit und in Echtzeit. Man kann fragen, ob sich damit die Versicherung als Risikokollektiv nicht selbst abschafft, wenn jederzeit gemessen und bewertet werden kann, welchem Risiko ein Mensch gerade ausgesetzt ist.

Was ist das: Dystopie einer Zukunft, in der den Kunden Datenschutz egal ist? Nein: Optimaler Kundendienst im Verständnis der Unternehmensoptimierer McKinsey. Sie raten den Versicherern dazu, "eine aggressive Strategie" anzuwenden, um Mitarbeiter mit entsprechenden IT-Fähigkeiten zu gewinnen und schnell auf digital umzurüsten. Zudem sollen die Anbieter beginnen, schon heute künstliche Intelligenz im Unternehmen zu etablieren, etwa durch Kooperationen mit Start-ups.

Es bleibt die Frage: Wie autonom und mündig ist ein Mensch, der sich -wie Scott im oben genannten Beispiel- von Konzernen immerzu überwachen lässt und bereitwillig hochsensible Daten weitergibt? Der sich von der Technik passende Lösungen vorschlagen lässt, anstatt selbst nach Auswegen zu suchen? Hat er einen freien Willen? Ist er mehr als Konsument? Ist das überhaupt noch ein Mensch? Könnte die künstliche Intelligenz nicht auch genutzt werden, vermeintliches Fehlverhalten zu sanktionieren, als totalitäre Überwachungstechnik?
Vielleicht ist der ideale Kunde, den sich die Studienmacher vorstellen, in Wirklichkeit ein Roboter.