Mit der App treefin sollen Kunden künftig vollautomatisiert auf bestehende Versicherungslücken hingewiesen werden – durch Zugriff der App auf die Kontodaten. Das dazugehörige Fintech ist eine Tochter der Wüstenrot & Württembergische-Gruppe (W&W). Wie die Technik funktionieren soll, erklärt Johannes Kotzerke, Senior Data Scientist der treefin GmbH.
Wir befinden uns in schnelllebigen Zeiten: Informationen strömen auf uns ein, wir haben immer größer werdende Netzwerke an Freunden und sowohl berufliche als auch persönliche Verpflichtungen zum Beispiel gegenüber Freunden und Familie oder dem Sportverein. Dadurch sind wir häufig sehr beschftigt und vermögen nur bedingt, besagten Verpflichtungen nachzukommen. Dieser aktive Lebensstil lässt wenig Zeit, um wichtige, aber oft unliebsame Aufgaben wie die Auswahl und Aktualisierung von Versicherungen zu erledigen.
Weiterhin ist den meisten Menschen nicht bewusst, auf welche Aspekte sie achten müssen oder welche Eigenheiten ihres Lebens einer Absicherung bedürfen. Häufig weiß der Laie nicht, ob und wann sich seine Bedürfnisse geändert haben. Eine automatisierte Bedarfserkennung anhand von Kontoumsätzen wäre ein erster konkreter Ansatz. Sie hat die Vorteile, dass sie jederzeit zur Verfügung steht und keine menschliche Interaktion stattfinden muss. Sind die Anforderungen eines Kunden erst einmal erkannt, kann ein Versicherungsmakler oder Finanzberater des Vertrauens in einem persönlichen Gespräch konkrete Hilfestellung anbieten.
Ganz wichtig sind dabei die Datensicherheit und der Datenschutz sensitiver persönlicher Daten. Es muss sichergestellt sein, dass die Daten unter keinen Umständen, bewusst oder unbewusst, in Hände von Unbefugten gelangen. In dieser Hinsicht ist der Anbieter der Applikation gefragt: Daten müssen verschlüsselt übertragen und in Deutschland abgespeichert werden. Zusätzlich ist es wichtig, dass der Nutzer stets die Kontrolle über seine Daten behält: Kontoumsätze müssen anonymisiert ausgewertet werden, sodass diese keinerlei Rück- schlüsse auf seine Person zulassen. Lediglich beim expliziten Abschicken einer Beratungsanfrage dürfen persönliche Daten wie zum Beispiel der Name übertragen werden.
Idee
Kontoumsätze verraten viel über ihre „Verursacher“. Es lassen sich daraus zum Beispiel wichtige soziodemographische Merkmale wie Beziehungsstatus, Wohnort, Haushaltsgröße, das ungefähre Alter und Geschlecht, aber auch Vorlieben, Hobbies und Prioritäten ableiten. Ebenso werden bestehende Versicherungen durch die entsprechenden Beitragszahlungen ersichtlich. Es ergibt sich ein granulares Bild des Kunden. Die soziodemographischen Merkmale erlauben eine automatisierte Erkennung der Bedürfnisse beispielsweise angelehnt an die DIN SPEC 77222, die Anforderungen an die standardisierte Finanzanalyse für den Privathaushalt festlegt.
Konkrete Umsetzung
Diverse Kontobewegungen lassen automatisierte Schlüsse zu. Kontoumsätze enthalten den Verwendungszweck und den Betrag sowie den Überweisenden bzw. den Empfänger und dessen Bankverbindung, den Typ des Umsatzes wie Lastschrift, Gutschrift, Überweisung oder Barabhebung, das Buchungsdatum und den Geschäftsvorfallcode aus dem Bankenzahlungsverkehr.
Exemplarisch möchte ich hier die regelbasierte Kindergelderkennung herausgreifen. Das Kindergeld wird im Normalfall von einer Familienkasse angewiesen, der Betrag ist vorgegeben: 194 Euro bei einem Kind, 388 Euro bei zwei, 588 Euro bei drei und weitere 225 Euro bei jedem weiteren Kind. Der Verwendungszweck folgt dem Schema 123FK456789: 123 ist die zuständige Familienkasse als Zifferncode, 456789 die Kindergeldnummer, wobei die letzte Stelle den Ausführungszeitpunkt angibt (hier 9: Ende des Monats). Diese Eigenschaften genügen, um Kindergeldzahlungen eindeutig zu identifizieren. Weiterhin kann anhand des erhaltenen Kindergelds auch auf die Anzahl der Kinder geschlossen werden, die abgesichert und versichert werden müssen.
Die regelbasierte Umsatzerkennung kann aber auch an ihre Grenzen stoßen, da die Regeln meist auf den entsprechenden Anwendungsfall optimiert werden. Methoden des Machine Learning können stattdessen eingesetzt werden, um zum Beispiel Umsätze in Kategorien wie etwa Lebenshaltung und Versicherungen einzuteilen oder einzelne Kunden einer Kundengruppe mit ähnlichen Ausgaben unter der Annahme ähnlicher (Versicherungs-)Bedürfnisse zuzuweisen.
Lebensverändernde Ereignisse
Ein weiterer Ansatz ist, lebensverändernde Ereignisse anhand der Kontenbewegungen zu erkennen oder sogar vorherzusagen. Dadurch können (pro-)aktiv Versicherungsoptimierungen empfohlen werden. Dies kann besonders hilfreich sein, wenn dem Kunden selbst nicht alle Implikationen oder Konsequenzen bewusst sind.
Ein gutes Beispiel dafür ist die bevorstehende Geburt eines Kindes: Die Geburt muss beim Standesamt angezeigt werden, Kindergeld muss beantragt werden, Ausbildungsversicherungen und Sparverträge können abgeschlossen werden. Viele dieser (administrativen) Vorgänge können in den ersten Wochen und Monaten leicht übersehen werden, weil die Eltern noch in ihre Rolle hineinwachsen und andere Prioritäten als Versicherungen haben. Eine dezente, aber proaktive Erinnerung im richtigen Moment kann hier Abhilfe schaffen und unaufdringlich und digital geschehen.
Die Zukunft?
Zu den wesentlichen Vorteilen der automatischen Bedarfserfassung gehören die Flexibilität, die verringerte Absicherungshürde und die Zeitersparnis. Der Absicherungsbedarf des Kunden kann anhand seiner Kontobewegungen automatisch geschätzt werden, gefolgt von der manuellen Korrektur eventueller Falscherkennungen durch ihn selbst. Dies kann zu jeder Tages- und Nachtzeit und daher im richtigen Kontext durchgeführt werden. Wenn nach der Erkennung in der Finanz-App des Vertrauens eine grobe Bedarfsübersicht angezeigt und eine Beratungsanfrage per Button gesendet werden kann, senkt sich besonders für junge Erwachsene die Hemmschwelle, sich über ihre Absicherungsmöglichkeiten zu informieren.
Die automatisierte Erkennung von soziodemographischen Merkmalen oder lebensverändernden Ereignissen schafft neue Möglichkeiten und erhöht die Flexibilität. Meistens ist allerdings trotzdem die Mitarbeit des Versicherungsnehmers erforderlich, um zum Beispiel sein Geburtsdatum zu erfassen. Es gibt Umsätze, die auf den Geburtstag schließen lassen wie etwa Geburtstagsüberweisungen. Da dies aber nicht immer der Fall ist, darf sich darauf nicht blind verlassen werden. Des Weiteren lassen sich persönliche Motive und langfristige Ziele nur sehr schwer allumfassend ermitteln. Deshalb kann und sollte eine automatisierte Bedarfserkennung keine komplette Beratung ersetzen, aber eine gute Unterstützung darstellen.