William White, früherer Chef-Volkswirt der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), warnt im aktuellen „Spiegel“ vor einer neuen Finanzkrise. Die Probleme, welche 2008 zum Beinahe-Crash des weltweiten Finanzsystems führten, seien nicht gelöst, sondern hätten sich sogar noch verschärft.
Zehn Jahre ist es nun her, dass eine Krise des spekualitiv aufgeblähten Immobilienmarktes die Finanzwelt an den Rand eines Kollaps brachte. Nachdem die amerikanische Großbank Lehmann Brothers am 15. September 2008 ihre Zahlungsunfähigkeit verkündet hatte, war eine beispiellose Kettenreaktion die Folge. Die Konjunktur brach weltweit ein, viele Menschen verloren Arbeitsplatz und Perspektive. Private und staatliche Banken mussten (teil)verstaatlicht werden, um sie vor einem Kollaps zu schützen. Auch die Eurokrise resultiert zum Teil aus der Finanzkrise: In Europas Peripherie stieg die Staatsverschuldung massiv an. Allein Spaniens Schulden explodierten von 2008 bis 2014 von 35 auf 100 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Aber wäre eine neue Krise wie im Jahr 2008 heute überhaupt denkbar? Davor warnt aktuell William White, Ökonom und früherer Chefvolkswirt der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel. In dieser Funktion war der 75jährige in Chefdenker der international vernetzten Zentralbanken. Noch heute genießt er in der Finanzwelt einen exzellenten Ruf - auch, weil er als einer der wenigen bereits vor 2008 einen Kollaps des Systems vorausgesagt hatte.
“Die Probleme sind nie bewältigt worden“
“Die Probleme, die der Lehmann-Krise zugrunde lagen, sind nie bewältigt worden. Im Gegenteil: sie haben sich noch verschärft“, sagt William White dem „Spiegel“ (Nr. 37 / 8.9.2018). Ein wichtiger Fehler sei zum Beispiel gewesen, dass das Krisenmanagement der Regierungen eine notwendige Marktbereinigung verhindert hätten. Durch staatliche Konjunkturprogramme und Stundung von Krediten sei zwar die Rezession schnell überwunden worden. Aber diese Maßnahmen hätten „unbeabsichtigte Konsequenzen“ gehabt - und verhindert, dass Firmen wettbewerbsfähiger werden oder vom Markt verschwinden.
Zwar wurde die Finanzaufsicht nach der Krise deutlich verschärft: unter anderem müssen die Geldhäuser und Finanzdienstleister heute mehr Eigenkapital zurücklegen. Auch Krisenpläne für eine mögliche Abwicklung sind Pflicht. Große Institute werden nicht mehr national, sondern auf europäischer Ebene überwacht. Und auch die Regeln für die Einlagensicherung wurden vereinheitlicht. Dennoch: Wichtige Krisenauslöser sind aus Sicht von White nicht beseitigt worden, sondern durch das Krisenmanagement sogar zusätzlich aufgeblasen.
Beispiel Banken: Mehr noch als früher seien die Geldhäuser heute viel zu groß, um vom Staat fallen gelassen zu werden wie einst Lehmann Brothers. Zugleich schwinde die Möglichkeit des Gesetzgebers und der Zentralbanken, überhaupt noch mit ihrer Geldpolitik regulierend auf die Finanzmärkte einwirken zu können, gibt White zu bedenken. Mit anderen Worten: durch die aktuelle Niedrigzins-Politik und Aufkaufprogramme schöpfen die Zentralbanken schon aus, was an Intervention überhaupt machbar ist. Ihre Instrumente, im Falle einer neuen Krise einzugreifen, schwinden.
“Die Schulden sind höher als je zuvor“
Ein weiteres Problem aus Sicht von White: Die Märkte werden mit billigem Geld geflutet. Das schaffe einen Anreiz, dass sich sowohl Firmen als auch Privathaushalte verschulden. „Die Schulden sind höher als je zuvor“, gibt White gegenüber dem SPIEGEL zu bedenken. Zahlen werden in dem Artikel zwar keine genannt. Aber die liefert eine aktuelle Studie des Institutes of International Finance (IIF), des Weltverbands der Banken. Mit 215,5 Billionen Dollar oder umgerechnet etwas mehr als 200 Billionen Euro sind demnach aktuell Staaten, Firmen und Privathaushalte verschuldet. Das entspricht 325 Prozent der jährlichen Weltwirtschaftsleistung.
Geldpolitik begünstigt weitere Schulden
Die weltweite Verschuldung ist also schon auf einem Rekordniveau angekommen, gibt William White zu bedenken. Doch hier fehle ein Gegengewicht. Die aktuelle Niedrigzins-Politik schaffe für Unternehmen wie Privathaushalte einen Anreiz, sich weiter zu verschulden. Ausgaben werden auf Kosten späteren Konsums vorgezogen. Und weil die Firmen nach renditenstarken Geldanlagen suchen, steige auch die Möglichkeit, toxische Ramschpapiere loszuwerden.
Tatsächlich seien vor allem in vielen asiatischen Ländern die Unternehmen enorm verschuldet, besonders in US-Dollar, warnt White. Das Problem: Die amerikanische Notenbank Federal Reserve erhöhe seit geraumer Zeit in kleinen Schritten die Leitzinsen wieder. Damit werde es für die Firmen schwieriger, die Schulden zurückzuzahlen. Auch die aktuelle Inflation in der Türkei habe dies als Ursache.
Entscheidend sei, so White weiter, dass die Zentralbanken endlich den Krisenmodus verließen und eine antizyklische Geldpolitik betrieben - also angesichts der weltweit guten Konjunktur die Zinsen wieder raufsetzt. Denn: "Schon die Antwort auf den Börsencrash von 1987 war: Wir drucken Geld. Und so ging es weiter. Nach jeder Krise sind die Zinsen niedriger und die Schulden höher. Wir stoßen also an eine Grenze."