Dank Friedrich Merz diskutiert Deutschland wieder über Aktien als Altersvorsorge. Der Kandidat für den CDU-Vorsitz hat vorgeschlagen, Aktien im Alter durch steuerliche Freibeträge zu fördern. Die Antwort kam prompt: „Das ist ein milliardenschwerer Gefallen für Reiche und vor allem für seine Kollegen von Blackrock“, sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Friedrich Merz ist deutscher Aufsichtsrats-Chef des weltgrößten Vermögensverwalters. Ein Blick darauf, wer in Deutschland Aktien hält und wem der Vorschlag vor allem nützen würde.
Kann ein jeder in Aktien investieren - und sollte er das tun? So lässt sich die aktuelle Debatte überschreiben, die Friedrich Merz vorgeschlagen hat. Der CDU-Politiker ist nicht nur Kandidat für den Vorsitz seiner Partei und könnte in wenigen Jahren Bundeskanzler sein. Er ist auch Chef des deutschen Aufsichtsrats von Blackrock, weltgrößter Vermögensverwalter mit einem verwalteten Vermögen von 6,3 Billionen Dollar. Das sind sechs mal tausend Milliarden Dollar - eine aberwitzig große und kaum vorstellbare Zahl.
Aktien als Altersvorsorge
Merz schlägt einen jährlichen Steuerfreibetrag vor, mit dem die Sparer einen auf Aktien basierenden Vorsorgeplan aufbauen könnten - "dieser dürfte im Alter nicht mehr nachversteuert werden", betonte er. Wichtig sei, dass das Aktienpaket erst dann genutzt werden dürfe, wenn die Regelaltersgrenze erreicht worden sei. Der 63jährige rechnet mit zusätzlichen Kosten für den Staat im dreistelligen Milliarden-Bereich. Weil der Bund aber auch 100 Milliarden Euro pro Jahr ausgebe, um die gesetzliche Rente zu stabilisieren, sei dies „verkraftbar“.
Aktien können Altersvorsorge sinnvoll ergänzen
Tatsächlich spricht zunächst erst einmal nichts dagegen, Teile der Altersvorsorge auch mit Aktien abzudecken. Denn während zinsbasierte Anlageformen aktuell wenig bis nichts abwerfen, zeigen sich Aktien langfristig ertragreich - wenn man denn auf die richtigen setzt.
So erhebt das Deutsche Aktieninstitut (DAI) in Stuttgart eine Statistik, das sogenannte DAX-Renditedreieck, was in einfacher Form die Wertentwicklung an den deutschen Aktienmärkten versinnbildlichen soll. Dabei werden neuerdings auch monatliche Fonds-Sparpläne berücksichtigt. Das Ergebnis: Wer im Jahr 2000 begonnen hätte, monatlich den gleichen Betrag in den DAX zu investieren, hätte eine jährliche Rendite von 8,5 Prozent erwirtschaften können - auch mit vermeintlich sicheren Anlagen wie ETFs. Das ist mit neu abgeschlossenen Zinsprodukten derzeit in der Regel nicht zu erzielen.
Selbst die sonst so skeptischen Verbraucherzentralen sind dazu übergegangen, den Bürgern ein verstärktes Investment in Fonds und Aktien zu empfehlen. „Wer breit gestreut in die Aktienmärkte investiert, kann auf deutlich höhere Erträge hoffen. So hat sich der Wert der Aktienmärkte gemessen am MSCI World Index seit 2009 verdoppelt“, heißt es auf verbraucherzentrale.de. Solche beeindruckenden Kursanstiege seien aber nicht die Normalität. „Die Historie der Aktienmärkte zeigt: Unterm Strich sind die Erträge im langfristigen Durchschnitt jährlich um rund 4 Prozent höher als bei sicheren Geldanlagen.“ Ein Auf und Ab an den Börsen mit zwischenzeitlichen Verlusten sei zudem unvermeidbar.
Vor allem Gutverdiener sind Aktienbesitzer
Doch die Deutschen sind traditionell Aktienmuffel. Aktuell gibt es nur rund zehn Millionen Aktionäre in Deutschland, ihre Zahl ist in den letzten Jahren kaum gestiegen: etwa jeder sechste Deutsche investiert also in Fonds und Aktien. Sechs von zehn Aktienbesitzern waren zudem in 2017 bereits 50 Jahre oder älter, so berichtet der „Spiegel“ ebenfalls unter Berufung auf eine DAI-Studie.
Stattdessen investiert die Mehrheit der Bundesbürger nach wie vor in vermeintlich sichere Anlagen wie Sparbücher oder Tagesgeld. Diese bedeuten unter der Berücksichtigung der Inflation aber, dass das Vermögen schrumpft. Die Webseite tagesgeldvergleich.net errechnet für neu abgeschlossene Sparbücher aktuell einen durchschnittlichen Zins von 0,10 Prozent: eingerechnet wurden 55 Angebote. Das ist im Grunde nix.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wer von einem Steueranreiz für Aktien profitieren würde. Zum jetzigen Zeitpunkt wären es vor allem Gutverdiener. Das zeigt schon der Blick auf die Struktur der Aktionäre. Rund 4 Millionen Aktienbesitzer verfügten 2017 über ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen von über 4.000 Euro, so berichtet das DIA - das ist mehr als jeder dritte Aktienbesitzer. 2,6 Millionen Aktienbesitzer haben ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen von 3.000 bis 4.000 Euro. Das entspricht weiteren 26 Prozent. Zwei Drittel aller Aktienbesitzer in Deutschland verdienen folglich mindestens 3.000 Euro netto im Monat.
Dem entgegen besitzen Menschen mit kleinerem Geldbeutel derzeit kaum Aktien und Fondsanteile. Nur 13,1 Prozent der deutschen Aktienbesitzer haben ein monatliches Nettoeinkommen von 2.000 bis 3.000 Euro. Die Einkommensgruppe unter 2.000 Euro ist sogar nur mit 5,9 Prozent vertreten. Hier stellt sich die Frage, wie viel diese Menschen tatsächlich zusätzlich in Aktien investieren können, wenn das Geld ohnehin zum Leben kaum reicht.
5 Euro pro Tag für Aktien? Haben viele nicht!
Bezüglich der Altersvorsorge lässt eine Studie des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin aufhorchen. Rund die Hälfte der deutschen Haushalte hat im Monat demnach weniger als 150 Euro zum Zurücklegen übrig. Friedrich Merz hatte in der ARD zusätzlich vorgeschlagen, dass die Bürger täglich vier bis fünf Euro in Aktien investieren sollen. Es komme darauf an, dass man in jungen Jahren mit kleinen Beiträgen anfange - "das können schon vier oder fünf Euro am Tag sein".
Hier verkennt Merz die finanziellen Möglichkeiten vieler Haushalte. Fünf Euro pro Tag an der Börse zu investieren, wäre für jeden zweiten deutschen Haushalt eine zu hohe Hürde, so die Lehre aus der DIW-Studie. Dann bliebe ihnen schlicht kein Geld übrig, um in andere Formen der Vorsorge zu investieren oder grundsätzlich Geld zurückzulegen: Sie müssten ihre Rücklagen komplett mit Fonds und Aktien gestalten. Auch Vorsorgeformen wie Renten-, Pflegezusatz- oder Risikolebensversicherungen wären passé. Hier wäre es Aufgabe der Politik erst einmal dafür zu sorgen, dass den Menschen mehr Geld zum Leben übrig bleibt, zum Beispiel über faire Löhne.
Vorwurf der Klientelpolitik
Schlimmer noch: Rund 7 Millionen Menschen in Deutschland gelten nach dem Schuldenatlas 2017 der Wirtschaftsauskunftei Creditreform als verschuldet. Ist dann genügend Geld für ein Investment in Aktien übrig? Selbst die Initiative "Aktion pro Aktie" mehrerer Direktbanken, die sich zur Aufgabe gemacht hat für mehr Börsen-Engagement in Deutschland zu werben, rät davon ab, mit Schulden in Aktien zu investieren. "Davon sollten Sie auf jeden Fall die Finger lassen! Im Gegenteil: Sie sollten als Einsteiger nur mit Geld an die Börse gehen, das sie übrig haben – und dessen Verlust Sie im Fall der Fälle verkraften könnten", heißt es auf der Webseite der Kampagne.
Zum jetzigen Zeitpunkt wäre der Vorstoß von Friedrich Merz folglich ein Modell, von dem vor allem der gehobene Mittelstand und Gutverdiener profitieren würden. Jene Menschen jedoch, die am stärksten von Altersarmut bedroht sind - prekär Beschäftigte, alleinerziehende Mütter etc. -, würde sein Vorschlag kaum nützen. Hier muss sich der Millionär und Finanzlobbyist den Vorwurf gefallen lassen, dass er einseitig die Interessen seiner Klientel im Blick hat. "Was er vorschlägt, ist ein riesiger Schritt in die Privatisierung der Rente", sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil am Montag. "Das ist ein milliardenschwerer Gefallen für Reiche und vor allem für seine Kollegen bei Blackrock."
Kritik kommt jedoch auch von wirtschaftsnaher Seite. Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Michael Hüther, sagte der "Rhein-Neckar-Zeitung": "Keine neue Förderung, sondern bestehende Systeme überprüfen", das sei die Lösung. "Es gibt grundsätzlich keinen Grund, bestimmte Anlageformen - wie Aktien oder Renten - steuerlich für die Altersvorsorge zu begünstigen." Zumal es mit Riester und Rürup ja schon eine staatliche Förderung der Altersvorsorge gebe: die sich aber in Zeiten niedriger Zinsen als umstritten entpuppt, weil sie eben vor allem auf den Zinsmarkt zugeschnitten ist. Wer riestert, kann von den hohen Kapitalerträgen an den Aktienmärkten aktuell kaum profitieren.
Vorbild USA? Mehr Altersvorsorge über Aktien - und ähnliche Probleme des Rentensystems
Dass Aktien als Altersvorsorge auch funktionieren können, zeigen Staaten wie die USA. Jeder vierte Amerikaner hält derzeit Aktien, auch wenn die Zahl der Aktionäre zuletzt rückläufig gewesen ist. Das amerikanische Rentensystem gilt dabei als ähnlich leistungsfähig wie das deutsche.
In den Staaten fußt das Alterseinkommen ebenfalls auf den drei Säulen gesetzliche, private und betriebliche Altersvorsorge. Allerdings unter dem Vorbehalt, dass die gesetzliche Rente dort ein niedrigeres Absicherungsniveau verspricht. Die Beschäftigten zahlen 6,2 Prozent Beitrag in die Rentenkasse ein, der Arbeitgeber schießt ebenfalls 6,2 Prozent zu. Freiberufler müssen die vollen 12,4 Prozent entrichten. Bei Angehörigen der Mittelschicht machten die Rentenbezüge gegenwärtig etwa 42 Prozent ihres früheren Einkommens aus.
Die private Altersvorsorge wird hingegen stärker über Rentensparpläne bedient, bei denen zum Beispiel in Aktien, ETFs, Indexfonds oder Mischfonds investiert wird. Diese sind in der Ansparphase steuerlich begünstigt und werden direkt vom Gehalt bedient, müssen aber in der Rentenphase normal versteuert werden. Der Arbeitgeber kann die private Vorsorge freiwillig aufstocken. Ähnliche Systeme der Förderung gibt es auch in Schweden und Niederlanden.
Demografische Probleme und Vorsorgelücke
Doch funktioniert das Renten-System der USA besser als das deutsche? De facto schlägt es sich mit ähnlichen Problemen herum. In den kommenden Jahren werden in den Staaten 76 Millionen Baby-Boomer in den Ruhestand wechseln: Das belastet nicht nur die Rentenkasse, sondern auch die privaten Vorsorge-Anbieter.
Und es droht auch in den Staaten eine gewaltige Vorsorgelücke. Die künftigen Rentner der Jahrgänge 1946 bis 1964 haben nach einer Studie der Investment-Firma Legg Mason Vermögensansprüche in Höhe von 263.000 US-Dollar erworben, private Sparpläne eingerechnet. Sie würden aber aufgrund der steigenden Lebenserwartung 650.000 US-Dollar benötigen, also circa das Doppelte. Vielen Rentnern droht also im Alter das Geld auszugehen. Beunruhigend sind auch die Zahlen mit Blick auf die betriebliche Altersvorsorge. Nach Informationen der US-amerikanischen Regierung hat aktuell nur jeder vierte Ruheständler Anspruch auf eine Betriebsrente erworben.
Viele Amerikaner haben gar keine Vorsorge, sondern leben von Gehaltscheck zu Gehaltscheck. Zwei Drittel der US-Bürger hätten Schwierigkeiten, eine unerwartete Ausgabe von 1000 Dollar (890 Euro) zu meistern: Das geht aus einer gemeinsam durchgeführten Umfrage der Nachrichtenagentur AP und dem NORC Center for Public Affairs Research hervor. Eine weitere Zahl: Jeder fünfte US-Amerikaner im Rentenalter über 65 Jahren geht aktuell noch einer Arbeit nach, berichtet die Statistikbehörde Bureau of Labor Statistics.