Die private Krankenversicherung braucht endlich mehr Transparenz mit Blick auf die Prämien. Auch, damit sie sich selbst nicht langfristig den Garaus macht. Und weil die Versicherten ein Anrecht darauf haben, besser zu erfahren, warum die Beiträge in ihren Tarifen steigen. Ein Kommentar von Mirko Wenig.
Wenn Menschen in der Redaktion des Versicherungsboten anrufen, die verzweifelt sind und deshalb unseren Rat als Journalisten suchen, dann ist das ein ungewöhnlicher Vorgang. Allein in den letzten beiden Wochen ist mir das in drei Fällen passiert. Ich erhielt Anrufe von Senioren, die ihre private Krankenversicherung nicht mehr zahlen können. Und die nun erneut eine Teuerung eines Tarifs hinnehmen müssen.
Ein Handwerker berichtete zum Beispiel, dass er für seine private Krankenvollversicherung mittlerweile über 600 Euro zahle, obwohl er mit seinem Tarif vor Jahrzehnten mit einem Beitrag von damals 145 DM eingestiegen war. Allein der Beitrag zu seiner privaten Pflegepflichtversicherung soll im kommenden Jahr von 61,00 Euro auf 85,10 Euro steigen: ein Plus von satten 39,50 Prozent. Ich konnte den besorgten Handwerker nur auf die Möglichkeit einer fachkundigen Tarifwechsel-Beratung nach § 204 VVG hinweisen, wenn er keine Einbußen bei den Leistungen akzeptieren will.
Wenn man mit solchen Menschen spricht oder sich mit ihnen schriftlich austauscht, dann steht man etwas ratlos vor Pressemeldungen wie jener, die uns vor wenigen Tagen vom PKV-Verband ins Haus flatterte. Dort berichtet der Lobbyverband, dass die Prämien in der privaten Krankenversicherung von 2009 bis 2019 deutlich niedriger gestiegen seien als in der gesetzlichen Krankenversicherung. In der PKV habe das Plus durchschnittlich 2,8 Prozent betragen, bei den gesetzlichen Krankenkassen hingegen jährlich 3,3 Prozent. Auch zum kommenden Jahreswechsel sollen die Beiträge „nur“ um 1,9 Prozent steigen.
Die Botschaft solcher Pressemeldungen ist klar: Beitragssprünge in der PKV sind kein Problem. Alles Panikmache. Bei „uns“ legen die Beiträge doch sogar weniger zu als bei der gesetzlichen Konkurrenz. Verbunden wird das mit viel Selbstlob: Wir als Privatversicherer finanzieren den medizinischen Fortschritt, neue High-Tech-Verfahren und Medikamente. Doch ich gestehe, ich reagiere auf solche Pressetexte mittlerweile verschnupft. Weil ich auch Einblicke in die andere Seite bekommen habe. Weil ich weiß, dass Versicherte an ihren PKV-Beiträgen zweifeln und verzweifeln. Und weil uns auch Vermittler von hohen Prämiensprüngen bei ihren Kunden berichten. Weil mir diese Menschen, oft Senioren, schreiben oder in der Redaktion anrufen: enttäuscht, entrüstet. Es gibt diese Menschen, sie sind ein Fakt.
Was sagt die Statistik der Durchschnittsbeiträge aus?
Nein, ich bin kein Gegner des PKV-Systems. Aber ich bin manchmal erschrocken, wie wenig die Branche bereit scheint, ihre eigenen Probleme zu reflektieren und zu thematisieren. Und sich selbst kritisch zu hinterfragen. Ich zweifle die Zahl nicht an: Es mag ja stimmen, dass im Schnitt die Beiträge nur um 1,9 Prozent steigen, wie der PKV-Verband berichtet. Aber das ist ein Durchschnittswert, der nichts darüber aussagt, wie sich die Prämien in einzelnen Tarifen und bei einzelnen Versicherern entwickeln. Wenn ein Teil der Versicherten mit seinen Füßen auf einer brennenden Herdplatte steht, ein anderer Teil seinen Kopf im Eisfach hat, sollte es im Durchschnitt auch angenehm warm sein: Ist aber für die Betroffenen garantiert unangenehm.
Ja, was sagt denn diese Zahl überhaupt aus: ein durchschnittliches Beitragsplus von 1,9 Prozent? Da sind auch jene PKV-Tarife eingerechnet, die erst neu eröffnet wurden und seit kurzer Zeit existieren. Es ist klar, dass hier die Prämien in der Regel noch nicht angehoben werden müssen oder zumindest nicht deutlich: Sie wurden ja gerade erst frisch kalkuliert. Da sind vor allem auch die Beihilfe-Tarife eingerechnet: Hier steigen die Prämien in der Regel weniger stark als in jenen ohne Beihilfe. Das liegt schlicht daran, dass der Staat 50 bis 70 Prozent der Arzt- und Gesundheitskosten aus Steuermitteln zuschießt. Im Alter, wenn die Pensionäre die größten Gesundheitskosten erzeugen, ist dieser Zuschuss meist am höchsten. Eine enorme Entlastung für die Versicherten - und die Versicherer. Und vor allem eine Entlastung für die Beiträge in diesen Tarifen. Hier sei daran erinnert, dass beinahe jeder zweite PKV-Vollversicherte Anrecht auf Beihilfe hat.
Was aber fehlt, ist eine detaillierte Statistik. Eine, die verrät, wie viele Privatversicherte tatsächlich von hohen Prämiensprüngen betroffen sind und bei welchen Anbietern. Die zeigt, warum und weshalb die Prämien bei einzelnen Versicherern steigen. Hier sei auf ein grundsätzliches Problem aus Sicht der Verbraucher hingewiesen. Die Versicherer müssen nicht konkret offenlegen, wie sie ihre Prämien kalkulieren und weshalb sie die Beiträge raufsetzen. Das ist Betriebsgeheimnis: ein anderer Wettbewerber könnte ja Einblick in die Tarifkalkulation nehmen. So wird Intransparenz als notwendiges Übel eines funktionierenden Marktes definiert.
Allein vermeintlich unabhängige Treuhänder wachen laut Gesetz über die Rechtmäßigkeit der Anpassung. Sie sollen verhindern, dass die Versicherten willkürliche Prämienanstiege erdulden müssen. Wie "unabhängig" diese Treuhänder sind, hat die Öffentlichkeit erst durch mehrere Rechtsstreite erst erfahren: Manche sind seit mehr als 14 Jahren für denselben Versicherer tätig. Sie kassieren pro Jahr mehr als 300.000 Euro von ebendiesem Versicherer. Sie beziehen ein Großteil Ihres Einkommens von diesem einen Anbieter. Kann man da behaupten, dass Sie als unabhängiger Treuhänder tätig sind, der völlig eigenständig Entscheidungen treffen kann?
Auslösende Faktoren - nicht der einzige Grund für Beitragssprünge
Geht es um plötzliche Prämiensprünge, die in den letzten Jahren in einzelnen Tarifen bis zu 40 Prozent Teuerung bedeuteten, begründet dies die PKV-Branche in der Regel mit den sogenannten auslösenden Faktoren. Die Versicherer dürfen die Beiträge nur anheben, wenn mindestens zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens, wenn die erwarteten von den einkalkulierten Versicherungsleistungen um mehr als zehn Prozent abweichen. Und zweitens, wenn die Versicherten älter werden als ursprünglich kalkuliert.
Hier sei zunächst auf ein grundsätzliches Problem hingewiesen: Die auslösenden Faktoren erlaubten es schwarzen Schafen der Branche in den 2000er Jahren, Neukunden zunächst mit Dumping-Tarifen in einen Vertrag zu locken. Und dann die Prämien eben deutlich raufzusetzen im Laufe der Zeit. Zwar wird die umstrittene Praxis von vielen Anbietern nicht mehr verfolgt: Sie merkten schlicht selbst, dass ihnen der Wettbewerb um möglichst günstige Kunden schadet. Hieraus rekrutieren sich auch viele Beitragsschuldner, die tatsächlich mit den Prämien überfordert sind. Aber wer als PKV-Versicherer schlecht wirtschaftet, kann auch heute noch die hohen Kosten über die Beiträge auf die Kunden umlegen.
Tatsächlich sind die jetzigen gesetzlichen Regeln auch ein Ärgernis aus Sicht der Versicherungswirtschaft. Sie tragen dazu bei, dass der Versicherer die Prämien nur in bestimmten Intervallen anheben kann, aber jahrelang gar nicht. Weitere Faktoren, die ebenfalls Auswirkungen auf die Beiträge haben, werden nicht berücksichtigt. Etwa der Niedrigzins an den Kapitalmärkten, den sich die Versicherer nicht ausgesucht haben, da können sie schlicht nichts dafür. Die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken trägt dazu bei, dass mehr Geld notwendig ist, um die Alterungsrückstellungen anzusparen. Aktuare und Versicherungswirtschaft machen sich für eine Reform der auslösenden Faktoren stark: Sie wollen, dass mehr Gründe berücksichtigt werden dürfen, um Prämien anzuheben.
Medikamente, Demografie, Abschlusskosten - für die PKV kein Problem?
Aber die auslösenden Faktoren sind nicht der einzige Grund für Beitragssprünge. Wer sich mit Versicherungsvorständen und Branchenvertretern vertraulich unterhält, der erhält „Off the record“ einen Einblick, dass die Branche durchaus Probleme hat. Die Alterung der Gesellschaft belastet natürlich auch die Privatversicherer, trotz der hohen Alterungsrückstellungen. Nicht nur, weil ältere Menschen im Schnitt deutlich höhere Gesundheitskosten erzeugen - sondern auch, weil künftig schlicht weniger Neukunden nachkommen werden. Abschluss-, Vertriebs- und Werbekosten sind weitere Faktoren, die Einfluss auf die Versicherungsprämie haben.
Ein weiteres Problem sind die grundsätzlich steigenden Kosten für Behandlungen und Medikamente, die Privatversicherer teils besonders stark belasten. Eben nicht allein als Folge des medizinischen Fortschritts oder der Demografie. Sondern schon deshalb, weil die Versicherer auf das Versprechen angewiesen sind, höhere Honorare und mehr Leistungen zu erstatten, natürlich abhängig vom Tarif. Beispiel Medikamente: Arznei ist in Deutschland besonders teuer, nirgendwo sonst in der EU kosten Pillen, Spritzen und Tropfen so viel. Das gilt speziell, wenn die Medikamente neu eingeführt werden. Die Hersteller dürfen die Preise im ersten Jahr selbst bestimmen, einen Kostendeckel wie in anderen europäischen Staaten gibt es hierzulande nicht.
Es sind oft die privaten Versicherer, die diese neuen Medikamente bereitwillig bezahlen, wenn Ärzte sie verschreiben: auch wenn der medizinische Nutzen fragwürdig oder umstritten ist. Denn die Privatversicherer werben ja gerade damit, dass die Patienten Anrecht auf die neuesten Medikamente haben, auch wenn es bereits preisgünstige Alternativen auf dem Markt gibt. So kann es passieren, dass ein Mittel gegen Hepatitis C im ersten Jahr hierzulande doppelt so teuer ist wie in Großbritannien. Und eine sechsmonatige Behandlungszeit im ersten Jahr 200.000 Euro verschlingt, im zweiten nur noch 96.000 Euro - für einen einzigen Patienten.
Ein Blick auf die Zahlen: Zwischen 2007 und 2016 stiegen die Ausgaben für ambulante Arzneimittel in der privaten Krankenversicherung von 2,047 Milliarden Euro auf 2,973 Milliarden Euro: ein stolzes Plus von 45 Prozent. Im selben Zeitraum sind die Arzneikosten bei den gesetzlichen Kassen „nur“ um 33,5 Prozent gewachsen. Hier ist auch die Politik gefragt.
Fehlende Transparenz - auch ärgerlich, weil es gute Wettbewerber gibt
Die fehlende Transparenz bei den Tarifen ist auch deshalb ärgerlich, weil es ja tatsächlich gute Privatversicherer auf dem Markt gibt. Solche mit niedrigen Vertriebs- und Abschlusskosten. Mit einer soliden Tarifkalkulation, so dass die Prämien langfristig relativ stabil bleiben. Mit gutem Service und einer vernünftigen Mischung von Preis und Leistung.
Solange aber andere Anbieter die Versicherten für schlechtes Wirtschaften und unsolide Tarifkalkulation zur Kasse bitten dürfen, fehlt mir der Glaube daran, dass der Markt das Problem der schwarzen Branchen-Schafe schon irgendwie selbst löst. Die vom Gesetzgeber erlaubte Intransparenz begünstigt Marktversagen. Es gibt zu viele Möglichkeiten, eine unseriöse Kalkulation vor den Verbrauchern zu verstecken. Und wer schlecht wirtschaftet, vielleicht sogar vorsätzlich, kann die Kosten später einfach über die Beiträge auf die Versicherten umlegen.
Deshalb mache ich mal einen ganz konkreten Vorschlag. Will ein Versicherer die Prämien besonders stark anheben, dann muss eine unabhängige Institution das noch einmal prüfen. Nicht jene Aktuare, die von den Versicherern selbst bezahlt werden. Es muss sich um eine strenge, unabhängige Watchdog-Institution handeln. Wer das sein kann? Keine Ahnung. Die BaFin prüft ja jetzt schon die Aktuare - wenn auch nicht sehr streng. Wie viel zum Beispiel ein Treuhänder von einem Versicherer bezahlt bekommt, spielt für die Versicherungsaufsicht keine Rolle. Auch hier wäre der Gesetzgeber gefragt, strengere Regeln zu definieren. Und bei den Verbraucherzentralen fehlt mir aktuell der Glaube, dass sie dieser Aufgabe personell und in Sachen Aktuars-Know-how gewachsen wären.