Eine Studie des Münchener ifo-Instituts zeigt: Bedürftigen Beziehern der geplanten Grundrente (mittlerweile mit dem Etikett "Respekt-Rente" versehen) bliebe der Gang zum Sozialamt nicht erspart. Stattdessen begünstigen die Pläne Personen, die bereits andersweitig abgesichert sind. Der Versicherungsbote hat sich die Berechnungen zu Plänen von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil genauer angesehen.
Studie weckt Zweifel an "ordentlichen Sprung" bei Rentenhöhe
447,00 Euro mehr – so lauten die aufsehenerregenden Schlagzeilen zum Plan einer sogenannten „Respekt-Rente“ (auch beim Versicherungsboten). Und die Stoßrichtung dieser Schlagzeilen ist deutlich: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) plant große Ausgaben, um all jene zu belohnen, die bei geringem Verdienst mindestens 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben. Aber kommen die Pläne wirklich jenen zugute, die laut Medienmeldungen davon am meisten profitieren sollen – nämlich Geringverdienern, die es gerade so auf Grundrentenzeiten von 35 Jahren schaffen? Eine neue Studie des Münchener ifo-Instituts meldet ernste Zweifel an.
Der Verdienst der Studie: Die Autoren verlassen sich nicht auf schlagzeilenträchtige Größen für den Einzelfall, sondern rechnen anhand konkreter Pläne Beispiele durch. Auch wird für die Studie ein Aspekt der Respekt-Rente bedacht, der in der Diskussion meist unter den Tisch fällt – ein Freibetrag bei der Grundsicherung, der zusätzlich zur Aufwertung der Rentenansprüche ein „Mehr“ für die „Respekt“-Rentnerinnen und Rentner garantieren soll. Wichtigste Erkenntnis: Gerade jenen, die am meisten von der Respekt-Rente profitieren sollen, bleibt ein Gang zum Sozialamt nicht erspart.
Respekt-Rente: Konkrete Pläne aus dem „Eckpunktepapier“
Ein aufklärerisches Vorhaben: Für das Münchener ifo-Institut will das Autorenteam Antje Fanghänel, Joachim Ragnitz und Marcel Thumwill nachrechnen, was die Respekt-Rente jenen Anspruchsberechtigten konkret bringen würde, die am meisten davon profitieren sollen. Reicht es doch nicht, sich nur auf schlagzeilenträchtige Werte für den Einzelfall zu verlassen. Zwar zieht der Bundesminister mit dem günstigsten Fall in die politische Schlacht für seine Pläne – bis zu 447,00 Euro mehr sollen drin sein durch Aufwertung der Rente, wie aus fast allen Schlagzeilen der letzten Wochen hervorging. Aber ist dieser günstigste Einzelfall auch exemplarisch für jene, denen die Rente am meisten nutzen soll? Diese Frage gilt es zu prüfen.
Für Modellrechnungen aber muss natürlich zunächst bedacht werden, was genau der Reformvorschlag des Bundesarbeitsministers konkret beinhaltet. Auffallend hierbei ist: Bisher umging die Debatte zu den Plänen wichtige Details. Besteht doch die angedachte Reform aus zwei Bestandteilen, wie die Experten unter Berufung auf ein Eckpunktepapier aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ausführen: Für einen bestimmten Kreis von Rentnern sollen Rentenansprüche aufgewertet werden durch Verdoppelung einer bestimmten Zahl von Entgeltpunkten. Zudem soll ein Freibetrag für die Grundsicherung eingeführt werden, ebenfalls für den Kreis anspruchsberechtigter "Respekt-Rentner". Insbesondere der zweite Punkt aber wurde bisher so gut wie nicht berücksichtigt. Deswegen muss zunächst dargestellt werden, was konkret durch das Bundesministerium geplant ist:
Verdoppelung der Entgeltpunkte
Die individuellen Rentenansprüche sollen laut Eckpunktepapier aufgewertet werden, wenn Rentnerinnen und Rentner innerhalb einer bestimmten Einkommensspanne liegen und mindestens 35 Jahre an rentenrechtlichen Beitrags-Zeiten vorweisen können. Sollen doch jene Menschen durch die geplante Reform belohnt werden, die bei geringen Einkünften lange für die gesetzliche Rente einzahlten, ohne jedoch 45 volle Beitragsjahre für eine Altersrente ohne Abschläge zu erreichen. Hierzu aber muss zunächst definiert werden, wie hoch das durchschnittliche Einkommen über die Jahre gewesen sein soll für Bezieher der neuen Rente. Das geschieht durch Ober- und Untergrenzen für die durchschnittlich erworbenen Entgeltpunkte. Bilden doch Entgeltpunkte auch das Verhältnis des Einkommens des Versicherten gegenüber dem Durchschnittseinkommen aller Versicherten ab. Und damit gewinnt der individuelle Durchschnittswert bei den Entgeltpunkten Aussagekraft über durchschnittliche Einkünfte einer Person – und zwar im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen aller Versicherten.
Respekt-Rente sollen laut Plan alle Personen erhalten, die mehr als durchschnittlich 0,2 Entgeltpunkte jährlich erworben haben, ohne 0,8 Entgeltpunkte zu überschreiten. Bei 0,2 Entgeltpunkten liegt die Mindestgrenze für den Anspruch – es gibt also einen Deckel nach unten, der alle ausschließt, die sehr wenig verdient haben. Zugleich gibt es eine Kappungsgrenze bei 0,8 Entgeltpunkten. Wer also darüber liegt, hat über die Jahre durchschnittlich zu viel für die neue Rente verdient. Die Studie führt aus: Ab der Kappungsgrenze von durchschnittlich 0,8 Entgeltpunkten wird durch die Grundrente kein Zuschlag zu den eigenen Rentenansprüchen mehr gewährt.
Das Ziel hinter dieser Eingrenzung scheint deutlich: Die Bezieher liegen durchschnittlich unterhalb von einem Entgeltpunkt und damit unterhalb des jährlichen Durchschnittseinkommens aller Versicherten. Die Regelung will also tatsächlich jene erfassen, die bei geringen Einkünften lange einzahlten. Aber ein Mindesteinkommen ist dennoch notwendig zum Erwerb des Anspruchs, der sich durch die Grenze von 0,2 Entgeltpunkten abbildet.
Wie aber geschieht nun die Aufwertung der Rentenansprüche? Das wiederum scheint zunächst einfach: Liegt man zwischen durchschnittlich 0,2 Entgeltpunkten und 0,8 Entgeltpunkten und erfüllt zudem die Mindestbeitragszeit von 35 Jahren, wird die Zahl der erworbenen Entgeltpunkte schlicht verdoppelt. Wichtig aber ist zugleich: Aufgewertete Entgeltpunkte werden lediglich für 35 Jahre angerechnet. Entgeltpunkte, die bei einer längeren Beitragszeit erworben wurden, bleiben hingegen zwar erhalten, ohne jedoch aufgewertet zu werden.
Freibetrag für die Grundsicherung
Freilich ist die Verdoppelung der Entgeltpunkte noch nicht gesamter Bestandteil der Reformpläne. Angedacht ist zudem ein Freibetrag in Höhe von 25 Prozent der individuellen Rente (einschließlich der Aufwertung durch die Grundrente), maximal jedoch von 106,00 Euro, für die Bezieher von ergänzenden Grundsicherungsleistungen. Die Maximalgrenze ergibt sich hierbei aus 25 Prozent des Regelbetrags der Grundsicherung – denn ab dem 1. Januar 2019 gilt für Alleinstehende ein Regelbedarf von 424,00 Euro.
Der Freibetrag ist ein wichtiger und bis jetzt überwiegend übersehener Bestandteil der Reform-Pläne aus dem Ministerium. Gerade aber für lange Einzahler mit niedrigen Einkünften ist dieser Bestandteil fundamental. Ohne Freibetrag nämlich wäre es ein Leichtes gewesen, dem Bundesarbeitsminister vorzurechnen, er hätte für Niedriglöhner eine ziemliche Mogelpackung geplant – das wird anhand der Studie sehr deutlich. Während aber just dieser Freibetrag den Niedriglöhnern tatsächlich ein Plus beschert, schlucken mögliche Bezieher der neuen Rente ihn zugleich als Wermutstropfen gegen die Altersarmut: Er bindet nämlich gerade die auf Grundsicherung angewiesenen Bezieherinnen und Bezieher weiterhin ans Sozialamt.
Was aber bedeutet „Freibetrag“? Im Grunde wird dieser Betrag nicht auf die Grundsicherung angerechnet. Die Studie führt aus: Der Maximalwert von 106,00 Euro würde selbst bei einer Beitragszeit von nur 35 Jahren bereits bei durchschnittlich 0,2 Entgeltpunkten zu Buche stehen. Anders ausgedrückt: Die 106,00 Euro gibt es als zusätzliche Leistung auf die Grundsicherung oben drauf. Jedoch haben die Vorschläge eine Tücke mit unerwünschten Folgen: Wer über den Maximalwert von 0,8 Entgeltpunkten kommt, erfährt nicht nur keine Verdoppelung seiner Entgeltpunkte. Er kann zudem den Freibetrag nicht mehr geltend machen.
Modellrechnungen: Wie wirken sich die Pläne aus?
Was aber würden nun die Pläne des Bundesarbeitsministers konkret bewirken? Hierzu hat das Institut nachgerechnet … und kommt zu überraschenden Ergebnissen. Überraschend sind diese Ergebnisse schon deswegen, weil wichtige Dinge in der bisherigen Debatte nicht bedacht wurden. Ein Beispiel: Heil ging von einem „ordentlichen Sprung“ aus, der den Betroffenen eine Rente von rund 900 Euro sichern soll. Eine Argumentation, die aber nur auf den Regelbedarf von 424,00 Euro zielen muss und das „Plus“ der Grundrente als großes „Plus“ für die Rentnerinnen und Rentner verkauft. Legt man aber statt des Regelbedarfs einen anderen Wert als Messlatte, nämlich das Grundsicherungsniveau, erweist sich manches Plus aus der Grundrente als kleiner Hops und so manches kleine Sprünglein reißt gar ganz die Latte.
Worin aber besteht die Pointe, wenn man das Grundsicherungsniveau zugrunde legt? Das Grundsicherungsniveau bedenkt: Rentner haben keineswegs nur Anspruch auf den Regelbedarf von 424,00 Euro! Hinzu kommen Kosten für Unterkunft und Heizung. Im Durchschnitt liegen diese Kosten bei 488,00 Euro im Monat, wie die Studie des ifo-Instituts ausführt. Das durchschnittliche Grundsicherungsniveau liegt demnach schon jetzt bei 912,00 Euro im Monat, und zwar unabhängig von den Rentenansprüchen.
Geringverdiener: "Mehr" einzig durch Freibetrag
Mit Blick auf die Grundsicherung sind nun jene Berechnungen des Münchener ifo-Instituts interessant, die alle Menschen betreffen, die gerade das Minimum von 35 Beitragsjahren für die neue Grundrente erfüllen. Hätten diese Menschen mehr durch die geplante Reform? Sie hätten mehr. Das verdankt sich aber keineswegs dem „ordentlichen Sprung“ beim Betrag der Grundrente, sondern einzig dem Freibetrag. Das Plus liegt ... im Schnitt bei 106,00 Euro. Denn Grundsicherung plus Freibetrag ergeben für diese Menschen letztendlich statt 912,00 Euro im Monat einen Betrag von 1.018 Euro im Monat. Dieses Plus wird durch die braune Kurve der unten stehenden Abbildung verdeutlicht.
Wichtig aber auch: Der Rentenanspruch, der allein durch die neu einzuführende Grundrente hinzukommen würde ohne Freibetrag (in der unten stehenden Abbildung durch die blaue Kurve verdeutlicht), sichert allen Menschen mit 35 Beitragsjahren nicht einmal das Grundsicherungsniveau. Einzig der Freibetrag also führt zu einer verbesserten Rentenleistung. Nun wäre es unredlich, diesen Vorteil zu leugnen. Jedoch kann für diese Menschen keine Rede sein von "447,00 Euro mehr", im Grunde sind es 106,00 Euro mehr durch den Freibetrag.
Das Ganze hat aber einen kleinen Haken, denn der Freibetrag ist ein Freibetrag für Bezieher von ergänzenden Grundsicherungsleistungen. Das bedeutet zugleich: Alle Bezieher der neuen Rente, die nur 35 Beitragsjahre aufweisen, müssten auch nach der Reform Grundsicherung im Alter beantragen. Anders und in Worten der Studie ausgedrückt: Die Grundrente „erspart“ den bedürftigen Rentnern „nicht den Gang zum Sozialamt“.
Etwas anderes kommt nun erschwerend hinzu: Da Rentenbezieher mit knapp über 0,8 Entgeltpunkten weder Anspruch auf die Grundrente noch auf den Freibetrag hätten, würden sie im Grunde schlechter gestellt als diejenigen Rentner, die knapp unter dieser Grenze bleiben. Das könnte letztendlich dazu führen, dass es sich aus individueller Sicht lohnt, zusätzliche Entgeltpunkte zu vermeiden. Warum soll jemand, der im Bereich der "Respekt-Rente" liegt und durch zusätzliche Entgeltpunkte darüber hinauskommen würde, auf Freibetrag und Verdoppelung der Punkte verzichten? Da könnte es sich unter Umständen sogar lohnen, ganz gezielt den Erwerb von Entgeltpunkten zu vermeiden, wenn man durch den Erwerb Ansprüche auf die neue Rente verliert.
Für einige Rentner: effektiver Rentenanspruch sinkt mit erworbenen Entgeltpunkten
Sogar innerhalb der Respekt-Rente-Bezieher zeigt sich der nachteilige Effekt, wenn Erwerbstätige für höhere Rentenentgeltpunkte geradezu abgestraft werden. Gibt es doch etwas, das die Studie mit dem etwas umständlichen Begriff der "Transferentzugsraten" bezeichnet. Gemeint ist: Mitunter wird für eine Leistung mehr entzogen als gegeben, so dass es sich in diesen Fällen lohnen kann, gerade keine Leistungen – in diesem Falle den Erwerb von zusätzlichen Entgeltpunkten – anzustreben. Jedoch erklärt es sich die neue Rente ja gerade zum Ziel, diesen zusätzlichen Erwerb (und damit Zahlungen an die Rentenkasse) zu honorieren. Zumindest für bestimmte Leistungsbezieher innerhalb des Bereichs der "Respekt-Rente" lohnt es sich ab einem bestimmten Punkt somit nicht mehr, zusätzlich Entgeltpunkte zu erwerben.
Das ergeben beispielhaft Berechnungen für jene, die 40 Beitragsjahre aufweisen: In dieser Gruppe ist noch immer auf Grundsicherung im Alter angewiesen, wer weniger als durchschnittlich 0,38 Entgeltpunkte pro Jahr erworben hat. Auch diese Menschen müssen also Grundsicherung im Alter beantragen. Und doch haben jene mit 40 Beitragsjahren, die trotz neuer Leistung wie eh und je zum Sozialamt müssen, einen Vorteil: Sie profitieren noch wesentlich von dem Freibetrag in Höhe von 106,00 Euro. Wer aber mit 40 Beitragsjahren über der Grenze von 0,38 Entgeltpunkten liegt, hat kaum noch einen Vorteil. Im Gegenteil ergeben Berechnungen für diesen Personenkreis: Ein zusätzlicher Euro Rentenanspruch führt zur Kürzung der Alterseinkünfte um mehr als einen Euro. Anders ausgedrückt: Beim Vorschlag des Bundesarbeitsministers sinkt in bestimmten Fällen der effektive Rentenanspruch sogar mit den erworbenen Entgeltpunkten – zumindest für einige Fälle wirkt sich ein „Mehr“ zum Nachteil aus.
Respekt-Rente: Geschenk für Nicht-Bedürftige
Zwei Dinge also müssen aus Sicht der Studie kritisiert werden: Zum einen verfehlt die neue "Respekt-Rente" zumindest in bestimmten Konstellationen das Ziel, den Erwerb zusätzlicher Entgeltpunkte zu belohnen. Das trifft zum Beispiel für alle zu, die im Schnitt knapp über die Grenze von 0,8 Entgeltpunkten rutschen. Hier wird eher das Vermeiden von Entgeltpunkten zum Beziehen der neuen Leistung zur Option. Zum anderen aber profitieren gerade jene, die am meisten profitieren sollen, nur durch einen Freibetrag für die Bezieher von ergänzenden Grundsicherungsleistungen. Damit aber bleibt dieser Personengruppe der Gang zum Sozialamt nicht erspart. In der Summe verfehlt die "Respekt-Rente" einige der wichtigsten Ziele, mit denen die hohen Kosten (in den Worten des Arbeitsministers ein „mittlerer einstelliger Milliardenbetrag“) gerechtfertigt werden sollen.
Wem aber nutzt nun die geplante „Respekt-Rente“ am meisten? Hier kommt der geplante Verzicht auf eine Bedürftigkeitsprüfung ins Spiel. Soll doch die Grundrente auch dann gewährt werden, wenn eine Absicherung des Rentenempfängers durch den jeweiligen Ehepartner, durch Ansprüche aus einer Hinterbliebenenrente oder durch vorhandenes Vermögen besteht. Heil äußerte dazu: „Ich fände es respektlos, wenn wir diese Menschen nach einem Arbeitsleben zwingen würden, beim Amt ihre Vermögensverhältnisse darzulegen“. Diesen Menschen, die gar nicht auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind, bleibt dann wirklich das Offenlegen der Vermögensverhältnisse erspart. Stattdessen profitieren sie wirklich vom "Plus", das auf bisherige Leistung oben drauf kommt.