Eigentlich als "Statement zur Diskussion um die Öffnung regionaler Krankenkassen" gedacht, zielt eine aktuelle Pressemitteilung des BKK Landesverbandes Bayern wesentlich auf einen Akteur: Auf die Konkurrenz der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK). Die Vorwürfe, die BKK-Vorständin Sigrid König hierbei erhebt, sind hart: „Allein aus finanziellen Gründen“ baue die AOK „ihre Marktmacht auf dem Lande aus“. Das hätte wenig „mit dem Können von Versorgung“ zu tun, sondern „wäre eine Risikoselektion besonderer Art“. Grund der Kritik: Die Betriebskrankenkassen fürchten das zunehmende Monopol der AOKen.
Ursache des Statements: Spahns tiefgreifende Pläne zur GKV
Eine Gesetzreform für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) steht ins Haus, die Zuweisungen von Geldern an gesetzliche Krankenkassen grundsätzlich verändern würde (der Versicherungsbote berichtete). Unter anderem geplant ist: Die Einführung eines Krankheits-Vollmodells, der den Risikostrukturausgleich für kostenintensive Versicherte auf Basis von 362 Krankheiten berechnet (statt wie bisher auf Basis von 50 bis 80 Krankheiten); die Versichertenindividuelle Berücksichtigung von Arzneimittelrabatten sowie die Einführung einer Manipulationsbremse gegen Abrechnungs-Schummelei.
Dass der Entwurf des Gesetzes aber auch einen wunden Punkt des Wettbewerbs zwischen den gesetzlichen Kassen berührt, zeigt eine aktuelle Presseerklärung des BKK Landesverbands Bayern. In einem Statement zum Gesetzentwurf nämlich wird – anders als in ersten Presseerklärungen anderer Kassen – keineswegs gegen die Pläne des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) oder gegen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geschossen. Stattdessen erfolgt durch Sigrid König, Vorständin des BKK Landesverbandes Bayern, ein harter Vorwurf an die Konkurrenz: Die AOK betreibe "regionale Risikoselektion".
Dieser Punkt ist dem BKK-Verband, zumindest für die aktuelle Presseerklärung, sogar wichtiger als direkte Stellungnahmen zu Spahns Plänen ... Positionen zum neuen Entwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium nämlich finden sich nicht in der Verlautbarung.
Morbi-RSA: Gut fürs Land, schlecht für die Städte
Um welchen Konflikt aber geht es bei diesem Vorwurf? Der aktuelle Gesetzentwurf "für eine faire Kassenwahl in der GKV" setzt sich zum Ziel, Missstände des so genannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) zu beheben. Der Morbi-RSA wurde Anfang 2009 – parallel zum Gesundheitsfonds – eingeführt mit dem Ziel eines Umverteilungssystems: Kassen sollten nicht durch Versicherte mit kostenintensiven Erkrankungen benachteiligt sein. Insbesondere für schwerwiegende oder chronische Erkrankungen mit hohen Folgekosten sollten demzufolge mehr Gelder fließen. Hierfür legte das Bundesversicherungsamt (BVA) die zu berücksichtigenden Krankheiten fest: Seit 2009 wird ein Katalog von 80 Krankheiten mit pauschalen Zahlungen an die Krankenkassen vergütet.
Das Umverteilungssystem aber offenbarte nach und nach eine Reihe unerwünschter Folgen, die nicht im Sinne des Gesetzgebers waren. Zum Ersten lädt das System geradezu zu Manipulationen von Abrechnungen ein – die umso größeren Schaden anrichten, je einflussreicher große Kassen durch Selektivverträge mit Vertragsärzten auf das Wettbewerbsgeschehen Einfluss nehmen (der Versicherungsbote berichtete).
Zum Zweiten führt das jetzige System zur Über- als auch Unterdeckungen der Kosten innerhalb verschiedener Personengruppen. Zum Beispiel werden Kranke unterdeckt, sobald sie an Krankheiten ohne RSA-Relevanz leiden: Hier gleichen Zuwendungen die Kosten der Kassen nicht aus. Bei Erkrankten jedoch, die über eine RSA-relevante Diagnose verfügen, kommt es häufig zur Überdeckung. Überdeckt durch Zuweisungen werden zudem oft Gesunde. Zum Dritten aber – und hier liegt der Knackpunkt der BKK-Kritik – schafft die jetzige Praxis regionale Unterschiede der Deckungssituation.
Risikoselektionsanreize bedrohen Wettbewerb
Statt also den Wettbewerb zu stärken, wie es Ziel der Reform von 2009 war, führt der Morbi-RSA zu Verzerrungen des Wettbewerbs. So führt ein Sondergutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit „zu den regionalen Verteilungswirkungen" aus: Versicherte in großstädtischen Zentren sind mit durchschnittlich 50 Euro pro Kopf im Jahr erheblich unterdeckt. Demgegenüber sind Versicherte außerhalb der Stadtregionen im Durchschnitt überdeckt. Ursachen hierfür sieht das Ministerium in verschiedenen regionalen Unterschieden zwischen Städten und ländlichen Regionen (wie zum Beispiel dem Anteil der ambulant Pflegebedürftigen in einer Region). Demnächst sollen Einflussfaktoren noch näher erforscht werden.
Der derzeitige Missstand der Überdeckung ländlicher Regionen aber nutzt, mehr als anderen Kassen, besonders den Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), sobald diese in Regionen mit günstigen Ausgabestrukturen tätig und auf diese Regionen beschränkt sind. Wettbewerbsnachteile hingegen haben Kassen, die bundesweit tätig sind. Das Problem schafft außerdem Fehlanreize, wie auch im Gesetzentwurf des Ministeriums zu lesen ist: Regionale Risikoselektionsanreize könnten dazu verleiten, „vorzugsweise Versicherte in Regionen mit unterdurchschnittlicher Ausgabenstruktur zu werben“. Eine Gefahr, die den Wettbewerb zwischen den Kassen zusätzlich bedroht.
Öffnung regionaler Kassen: Der versuchte Weg aus der Misere
Das Ministerium freilich will auch dieses Problem regionaler Unterschiede der Deckungssituation angehen: Spahns Gesetzentwurf sieht mehrere Maßnahmen gegen den Missstand vor. So soll eine Regionalkomponente in den Risikostrukturausgleich eingeführt werden. Zunächst sollen hierfür Einflussfaktoren auf die unterschiedliche Deckungssituation evaluiert und durch Variablen abgebildet werden. Die Variablen fließen in Zukunft laut Plan in die Berechnung der Zuweisungen von Geldern ein.
Noch folgenreicher aber wäre Spahns Plan, regionale Krankenkassen bundesweit zu öffnen. Denn keineswegs profitieren die Kassen nur passiv, sobald sie sich auf bestimmte und im doppelten Wortsinne "günstige" Regionen beschränken. Stattdessen sieht der Gesetzentwurf die Gefahr, dass "Versicherten aus Regionen mit überdurchschnittlichen Ausgabenstrukturen der Beitritt zu diesen günstigeren Krankenkassen verwehrt wird.“
Ein solches Verwehren jedoch soll laut Entwurf nicht mehr möglich sein: Auch Krankenkassen, die aktuell noch regional begrenzt tätig sind, sollen in Zukunft Mitglieder aus dem gesamten Bundesgebiet aufnehmen müssen. Laut Plan erstreckt sich der Zuständigkeitsbereich von Ortskrankenkassen damit zukünftig auf das gesamte Bundesgebiet.
AOK Bundesverband: "Ordnungspolitischer Holzweg"
Dass der AOK Bundesverband nicht sonderlich von den Plänen des Gesundheitsministers angetan ist, verwundert kaum. So sieht man Spahn mit seinen Plänen auf dem "ordnungspolitischen Holzweg“ und spricht von „Zwang“. Die angedachte Reform würde die Kassenwahl „nicht fairer“ machen, sondern „zu einem falschen Kassenwettbewerb“ führen – das erklärt Verbandschef Martin Litsch in einer öffentlichen Stellungnahme. Und die Verteidigung eigener Interessen geschieht über jene Strategie, die nun direkt von der BKK-Funktionärin angegriffen wird: Die AOK beruft sich auf eine besondere Kompetenz bei der regionalen Betreuung der Versicherten. Würden doch "gute und passgenaue Versorgungsverträge“ vor allem dort entstehen, "wo Ortskenntnis, hoher Marktanteil und regionales Engagement vorhanden sind“.
BKK-Vorständin: regionales AOK-Engagement hat wenig mit "Können von Versorgung zu tun"
Diesen Anspruch der AOK will auch der BKK-Verband für sich geltend machen – und weißt zugleich eine Sonderrolle, die sich die AOK zuspricht, zurück. Denn „alle Krankenkassen, egal ob regional organisiert oder bundesweit geöffnet", wären laut BKK-Vorständin Sigrid König „in der Lage, für ihre Versicherten Versorgung auf dem Land zu gestalten.“ Wenngleich eine solche Aussage zwar auch der Konkurrenz Kompetenz zuspricht, erstaunt dennoch die Offenheit, mit der König den Ortskrankenkassen ein ganz bewusstes Handeln unter einem weit schlechteren Motiv unterstellt, das keineswegs das Wohl der Versicherten im Auge hat: „Allein aus finanziellen Gründen“ baue die AOK „ihre Marktmacht auf dem Lande aus“. Das hätte wenig „mit dem Können von Versorgung“ zu tun, sondern „wäre eine Risikoselektion besonderer Art“. Wo der Gesetzentwurf aus dem Hause Spahns noch unspezifisch auf die Möglichkeit des Missbrauchs regional beschränkten Engagements durch Kassen hinweist, erfolgt durch die BKK-Vorständin ein konkreter Vorwurf – und zwar in Richtung der AOK.
Motiv des Angriffs: Das Marktmonopol
Wie aber erklärt sich dieser offene Affront? Auf den ersten Blick mag die Einlassung erstaunen: Auch die offenen Betriebskrankenkassen wären nämlich von einer bundesweiten Öffnung der Kassen betroffen, ausgenommen von dem Gesetz wären einzig die betriebsbezogenen Betriebskrankenkassen. Und auch die bayerischen Betriebskrankenkassen profitieren ja zum Teil von einer ländlich geprägten Region und somit von Überdeckung. Aber Königs Kritik wird verständlich im Kontext weiterer Verlautbarungen der BKK-Vorständin.
Denn die AOKen halten mittlerweile ein Monopol, dass auch den BKK-Funktionären Sorge machen muss. So warnte König bereits wiederholt vor einer Marktkonzentration durch Ortskrankenkassen, gegenüber dem Handelsblatt äußerte sie: „In sieben von sechzehn Bundesländern überschreiten die Ortskrankenkassen bereits jetzt die Schwelle von einem Drittel Marktanteil, ab der kartellrechtlich eine marktbeherrschende Stellung vermutet wird.“ Einen Marktanteil von 41 Prozent hielt die AOK mit Stand 2018 in Bayern, in Sachsen waren es gar 56 Prozent.
Zur Marktkonzentration hinzu kommt, dass AOKen wesentlich mehr von Überschüssen aus der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) profitieren als andere gesetzliche Krankenkassen. Eine weitere Pressemitteilung des BKK-Verbands machte dies anschaulich: Je Versicherten würden die Überschüsse mit Stand 2018 bei den Betriebskrankenkassen (BKK) rund 17 Euro umfassen, bei den AOKen hingegen liegen sie bei rund 35 Euro. Dass die BKKen fürchten müssen, die Konkurrenz durch die Ortskrankenkassen würde erdrückend groß, zeigen derartige Zahlen deutlich.
Widerstand der Länder: Gesetzentwurf könnte scheitern
Sind aber die Pläne aus Spahns Haus – trotz angezeigtem Reformbedarf und trotz der ambitionierten Pläne – überhaupt umsetzbar? Erste Reaktionen aus den Bundesländern lassen daran zweifeln. Der Grund: Während die Aufsicht bundesweit tätiger Kassen dem Bund unterliegt, sind für regionale Kassen die Aufsichtsbehörden der Bundesländer zuständig. Daraus könnte sogar ein mögliches zusätzliches Wettbewerbsproblem entstehen: Das Sondergutachten aus dem Hause des Ministeriums erwähnt, dass eine uneinheitliche Aufsichtspraxis einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil für regional begrenzte Kassen sichern kann.
„Wettbewerbsverzerrungen durch Unterschiede im Aufsichtshandeln“ werden demnach auch explizit als Motiv für den Gesetzentwurf auf Seiten des Ministeriums genannt. Ob sich jedoch die Bundesländer dazu hinreißen lassen, lieb gewonnene Kompetenzen an den Bund abzugeben und dadurch regionale Strukturen zu schwächen, darf mit einigem Recht angezweifelt werden.
Und erste Reaktionen der Länder verschärfen den Verdacht, denn auch der AOK Bundesverband darf sich in seiner Presseerklärung freuen: „Alle 16 Bundesländer lehnen den Gesetzentwurf ab.“ Zitiert wird Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU), die Pläne des größeren Unions-Partners sogar als "gefährlichen Irrweg“ bezeichnet. Und zitiert wird die Linke-Politikerin und Gesundheitsministerin Brandenburgs Susanna Karawanskij, dieses Mal in seltener und trauter Eintracht mit Positionen der CSU. Sieht doch Brandenburgs Ministerin die komplette Gesundheitsversorgung des ländlichen Raums in Gefahr, falls das neue Gesetz kommt.
Die Frage wird also spannend, wie es mit den Reformplänen weitergeht – nicht nur aufgrund des Konflikts konkurrierender Kassen, sondern auch aufgrund des schon jetzt deutlichen Widerstands aus den Bundesländern gegen die Pläne Spahns.