Not macht erfinderisch. Bisweilen führt die Not aber auch zu wahren "Milchmädchenrechnungen", wie das Beispiel eines Versicherungsmaklers aus Niedersachsen zeigt. Um Provisionen zu kassieren, hätte der Mann jahrelang draufgezahlt – für den Versicherungsschutz fingierter Verträge.
Der Plan: Voraussehbar ein Minus-Geschäft
Eine Fabel des französischen Dichters Jean de La Fontaine aus dem 17. Jahrhundert soll Schuld daran sein, dass man heutzutage einer „Milchmädchenrechnung“ ein wenig schmeichelhaftes Kalkül unterstellt. Ein junges Mädchen namens Lisette balanciert darin einen Topf voll Milch auf dem Kopf, den sie in der nahen Stadt verkaufen will. Sie malt sich aus, was sie für das Geld ihren Besitz mehren kann: vom Erlös will sie 100 Eier kaufen und ausbrüten lassen, so dass Küken schlüpfen, von der wachsenden Hühnerschar schließlich ein Schwein erwerben. Wenn dieses fett geworden ist, will sie vom Ertrag eine Kuh kaufen, die Kälber gebiert.
Doch als Lisette vor Freude über ihre künftigen Gewinnzuwachs auf dem Weg zur Stadt zu tanzen beginnt, fällt der Topf vom Kopf und zerbricht. La Fontaine warnt mit dieser Fabel vor Phantasterei und dem Bauen von Luftschlössern - auch wenn man dem Autoren aus heutiger Sicht entgegenhalten müsste, dass sein Milchmädchen klug im Sinne künftiger Investitionen denkt, folglich das Potential zur Unternehmerin hätte. Nur ihr Leichtsinn verhindert vielleicht, dass die Rechnung aufgeht.
Die Fehlkalkulation aber hinter einem Betrug, für den sich aktuell ein Versicherungsmakler vor dem Amtsgericht Burgwedel verantworten musste, möchte man sogar jenem sprichwörtlich gewordenen „Milchmädchen" fast nur mit Widerwillen anhängen. Vielmehr war es wohl schiere Verzweiflung, mit der sich ein Makler in eine Betrugsstrategie hinein manövrierte, die ihm letztendlich finanziell selbst am meisten geschadet hätte – so er den eigenen Betrug überhaupt bis zum Ende hätte finanziell stemmen können. Laut einem Bericht der Neuen Presse Hannover jedoch ging einiges schief für den Mann, und zwar auf folgendem Wege:
Provisionsbetrug mit eigenen Beitragszahlungen finanziert
Der 57-jährige Versicherungsmakler ergaunerte sich, zunächst erfolgreich, Provisionszahlungen. Hierzu fälschte er zwischen Oktober 2012 und Juli 2016 insgesamt 100 Versicherungsverträge – mehr als 200.000 Euro brachte ihm dieser Betrug ein. Nur: Ein solcher Betrug muss auch verborgen bleiben. Die Idee des Mannes: Er bedient pro Vertrag einfach für 60 Monate die Beiträge, und zwar von seinem eigenen Konto.
Freilich: Eine solche finanzielle Last, Beiträge für 100 Versicherungsverträge bedienen, muss erst einmal finanziell gestemmt werden. Da erscheint es fast als Glück des Mannes, dass die Revision der geschädigten Versicherung im August 2016 Unregelmäßigkeiten bemerkte und dem Treiben ein Ende machte – und zwar, bevor es „tatsächlich unwirtschaftlich“ für den Mann wurde, wie das Blatt aus Niedersachsen schreibt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Mann immerhin bereits 44.000 Euro von den ergaunerten 200.000 Euro über Beiträge „zurückgezahlt“.
Nach Aufdeckung der Unregelmäßigkeiten gestand der Mann bereitwillig alle Fälschungen, musste sich in der Folge wegen Betrugs und Urkundenfälschung in 100 Fällen vor dem Amtsgericht Burgwedel verantworten. Nun wurde das Urteil gefällt.
Zuschussgeschäft als Teufelskreis
Weil die Rechnung hinter dem Betrug gar nicht aufgehen konnte – sich an anteiligen Provisionen für Beiträge bereichern, sobald man die Beiträge selber bedient – fragte sogar der Amtsrichter laut „Neuer Presse“ während der Verhandlungen erstaunt beim Makler nach: „Das wäre doch ein Zuschussgeschäft für Sie geworden?“ Der Angeklagte gestand ein solches Geschäft ein, bekundete ebenso, er „hätte nicht so weit gedacht“. Aber lässt sich glaubhaft machen, dass ein Makler, der zudem laut Bericht studierter Volkswirt sein soll, die Fatalität einer solchen Rechnung übersieht?
Wahrscheinlicher ist, dass der Mann kurzfristig Geld benötigte, die gefälschten Verträge jedoch immer höhere Kosten nach sich zogen, um den Betrug zu verbergen – was erneuten Betrug nach sich zog. Er baute sich quasi sein privates Schneeballsystem, denn mit Provisionen Geld verdienen konnte er nur, solange er neue Verträge abschloss: mit den Provisionen daraus zahlte er auch die Beiträge für die vermeintlichen Altverträge. So verwundert auch kaum, dass der Angeklagte die hohe Zahl der Fälle mit einem „Teufelskreis“ erklärte.
Der Täter: reuevoll mit „gutem Eindruck“
Das Geld habe der Makler gebraucht, um das Leben seiner Patchworkfamilie samt sieben Kindern zu finanzieren. Dass dieses Leben ein Leben über den eigenen Verhältnissen war, gab der Makler laut Zeitungsbericht zu. Überhaupt: Die Zeitung schildert einen reuevollen Täter mit „gutem Eindruck". So habe der Mann alle Fälschungen gestanden, „lange, bevor die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufnahm“ – und zwar selbst für Fälle, auf die der Versicherer gar nicht aufmerksam wurde. Auch versprach der Mann unter Tränen vor Gericht: Er möchte versuchen, alles zurückzuzahlen.
Der Amtsrichter ließ demgemäß letzten Endes Milde walten, verurteilte den Mann wegen 100-fachen Betrugs zu zwei Jahren auf Bewährung und 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Das Leben mit seiner Patchworkfamilie freilich schultert der Mann zukünftig durch einen Bürojob. Denn seine Zulassung als Makler hat er aufgrund des Betrugs verloren.