Die Bundesregierung will mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz den Kindern pflegebedürftiger Eltern finanziell unter die Arme greifen, wenn sie nur ein kleines Einkommen haben. Die Kommunen sind gegen die jetzigen Pläne: Sie befürchten deutliche Mehrausgaben.
Nur wer mindestens 100.000 Euro brutto im Jahr verdient, soll noch für pflegebedürftige Eltern zahlen: So sieht es das sogenannte Angehörigen-Entlastungsgesetz vor. Die Ministerrunde der Großen Koalition hat ein entsprechendes Gesetz am Mittwoch verabschiedet und auf den Weg gebracht, nun muss noch der Bundestag sein Okay geben. Doch schon zeichnet sich Widerstand durch die Kommunen ab: Sie fürchten schlicht Mehrausgaben in Milliardenhöhe.
Elternunterhalt: Viele Angehörige finanziell von Pflege überfordert
Das Angehörigen-Entlastungsgesetz ist eine Antwort darauf, dass ein Pflegefall in der Familie oft auch für die Angehörigen eine enorme finanzielle Last bedeutet: in der Regel Ehepartner und Kinder. Reicht das Geld aus der Pflegeversicherung nicht aus, kann das Sozialamt die Angehörigen zur Kasse bitten. Nur ein recht niedriger Selbstbehalt sowie ein Schonvermögen für bestimmte Formen der Altersvorsorge wird nicht angefasst. In der Pflege gilt oft der Grundsatz: „Kinder haften für ihre Eltern!“
Hier will die Bundesregierung nachbessern und dafür sorgen, dass Angehörigen mit niedrigem Einkommen mehr im Portemonnaie bleibt. Wenn das Geld des Pflegebedürftigen und der gesetzlichen Pflegeversicherung nicht ausreicht, soll das Sozialamt die Kinder künftig erst zur Kasse bitten dürfen, wenn sie mehr als 100.000 Euro brutto im Jahr verdienen. Zum Vergleich: Aktuell gilt als Richtwert eine Einkommensgrenze von 21.600 Euro netto für Alleinstehende und 38.800 Euro netto per annum für Familien: Was darüber liegt, muss im Zweifel für die Pflege abgetreten werden. Diese Schwelle gilt für jeden einzelnen Unterhaltspflichtigen.
Viele Angehörige sind bisher mit den Pflegekosten überfordert, zumal sie in den letzten Jahren stark angestiegen. Im Januar 2019 betrugen die Kosten für einen vollstationären Pflegeheim-Platz laut PKV-Verband im Bundesschnitt 1.830,84 Euro monatlich: 80 Euro mehr als im Jahr zuvor, allerdings mit großen regionalen Unterschieden. Eine Entlastung sei "längst überfällig", sagte folglich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
Die Kommunen protestieren
Auf wenig Gegenliebe stößt das Gesetzesvorhaben hingegen bei Städten und Gemeinden. Nicht von ungefähr: Sie müssen nach dem jetzigen Stand als Sozialhilfeträger für die Mehrkosten aufkommen. Im Jahr 2017 zahlten die kommunalen Sozialämter bereits 3,9 Milliarden Euro, um Pflegebedürftige zu unterstützen.
Die Städte rechnen derzeit mit Kosten durch das neue Gesetz zwischen einer halben und einer Milliarde Euro pro Jahr, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, dem „Handelsblatt“. Er fordert: „Diese Mehrbelastungen der Kommunen müssen vollständig ausgeglichen werden“.
Die Mehrausgaben würden viele Städte in einer ohnehin angespannten finanziellen Situation treffen. Zwar haben auch sie vom Wirtschaftsaufschwung und sprudelnden Steueraufkommen der letzten Jahre profitiert, aber regional mit großen Unterschieden. Laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (iwd) saßen die Kommunen der deutschen Flächenländer zum Jahresende 2018 auf einem Schuldenberg von 130 Milliarden Euro: obwohl sie ihre Schuldenlast gegenüber dem Vorjahr um acht Milliarden Euro reduzieren konnten.
Differenzen gibt es auch bei den geschätzten Kosten. Die Bundesregierung veranschlagt laut „Handelsblatt“ 300 Millionen Euro pro Jahr: deutlich weniger, als die Städte an Mehrlasten befürchten. Hierfür rechnet die Regierung einfach, was zum jetzigen Zeitpunkt Kinder an Elternunterhalt für die Pflege aufbringen müssen. Der Städtetag vermutet hingegen, dass sich künftig weit mehr Menschen als bisher für eine Heimunterbringung entscheiden werden, wenn die teuren stationären Kosten entfallen. Zudem würde die Zahl der pflegebedürftigen Personen ohnehin stark steigen: Folglich wäre auch deutlich mehr Geld vonnöten.
"Das haben Sie auch nicht übrig, wenn Sie 70.000 Euro im Jahr verdienen!"
Ein weiterer Grund, weshalb der Städtetag kontra gibt: Er stört sich daran, dass durch das Angehörigen-Entlastungsgesetz das Prinzip der Nachrangigkeit in der Sozialhilfe scheinbar auf den Kopf gestellt wird. Stark vereinfacht sieht das Sozialhilferecht vor, dass erst nahe Angehörige einem sozial Bedürftigen unter die Arme greifen müssen, bevor die Sozialträger einspringen.
Selbst Bürger mit vergleichsweise gutem Einkommen würden über die steuerfinanzierte Sozialhilfe entlastet, unabhängig vom tatsächlichen Bedarf, kritisiert folglich Städtetag-Chef Dedy gegenüber dem "Handelsblatt". Auch der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, sagte Medien der Funke Gruppe: "Es ist grundsätzlich zumutbar, dass Kinder und Eltern gegenseitig füreinander einstehen. Daran sollte nicht gerüttelt werden."
Die Forderungen des Städtetages an die Politik gehen sogar in die entgegengesetzte Richtung: Nicht die Kosten der Angehörigen sollen bei der Pflege gedeckelt werden, sondern jene der kommunalen Sozialämter.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sieht das anders. Schon jetzt müssten Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in Nordrhein-Westfalen bis zu 2.500 Euro pro Monat zahlen, wenn der Betroffene vollstationär im Heim untergebracht werden müsse, gibt Lauterbach zu bedenken. "Das haben Sie auch nicht übrig, wenn Sie 70.000 Euro im Jahr verdienen", so der Sozialdemokrat gegenüber dem Handelsblatt. Es sei "vollkommen unsozial", wenn der Staat hier nicht eingreife und die Bürger entlaste.
Menschen werden unzureichend versorgt, aber gehen nicht ins Heim
Der Sozialverband VdK äußerte sich positiv zu den Plänen der Bundesregierung: Für viele Pflegebedürftige sei das Gesetz eine Hilfe in verzweifelter Lage. "Sie gehen nicht ins Heim, obwohl sie zu Hause nicht mehr ausreichend versorgt werden können, damit ihre Kinder nicht belastet werden", sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele der "Tagesschau".
Doch ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen, wo die Pflegeheimkosten am höchsten sind, sind auch viele Kommunen besonders krass verschuldet. Soeben haben Forscher des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) von der Landesregierung einen Schuldenschnitt für 143 Kommunen gefordert sowie einen Investitionsfonds für 253 weitere Städte. Die Kommunen können ihre Schulden im Bundesland zum Teil nur über sogenannte Kassenkredite schultern: Sie müssen neue Schulden machen, um alte zu bedienen. Allein diese tragen dazu bei, dass auf jedem Bürger eine Schuldenlast von 1.300 Euro lastet.