Fokussierung auf Innovation mit echter Wirkung


Quelle: Digital Insurance Agenda



Im Jahr 2006, viele Jahre bevor Lemonade begann, die Versicherungsindustrie zu revolutionieren und sich die Begriffe Insurtech und Fintech in der Breite durchsetzten, war Daisuke Iwase an der Gründung des ersten digitalen Lebensversicherers Lifenet in Japan beteiligt. Lifenet hat den japanischen Lebensversicherungsmarkt mit dem Direktvertrieb von Lebensversicherungen per Internet – etwas, das nach Auffassung mancher unmöglich ist – von Anfang an aufgemischt. Heute ist Daisuke Iwase Group Chief Digital Officer der AIA Group. Im Interview mit Roger Peverelli, Reggy de Feniks und Walter Capellmann, den Initiatoren der Digital Insurance Agenda, erzählt er über das Insurtech 1.0, welche Lektionen er aus dem japanischen Markt mitgenommen hat und wie sich die Zukunft des Lebensversicherungsgeschäfts gestalten wird. Der Versicherungsbote ist Medienpartner der Digital Insurance Agenda, die am 20./21. November 2019 in München stattfindet. Mit dem Code: "DIA200VERSICHBOTE" sparen Sie 200 Euro bei der Anmeldung.

Im Sommer 2006, also viele Jahre, bevor sich die Menschen überhaupt vorstellen konnten, dass Fintechs und Insurtechs die digitale Landschaft und die gesamte Versicherungsindustrie revolutionieren würden, haben Sie beschlossen, ein neues digitales Lebensversicherungsunternehmen zu gründen. Können Sie uns ein wenig mehr darüber erzählen?

Daisuke: Zunächst will ich die Versicherungslandschaft zum damaligen Zeitpunkt beschreiben: viele komplexe Produkte, mangelnde Transparenz, Misstrauen, Skepsis gegenüber Lebensversicherern und Kunden, die nach einfacheren, transparenteren und passenderen Lösungen suchten. Damals winkten die meisten Branchenkollegen ab und sagten, was wir vorhätten, sei unmöglich; niemand würde digital eine Lebensversicherung abschließen. Und die Regulierungsbehörden würden zwei zufälligen Individuen niemals eine Konzession erteilen. Aber dann, im Mai 2008, gründeten wir Lifenet mit einem Kapital von mehr als 120 Millionen Dollar und einer Konzession für ein ganz neues unabhängiges Unternehmen. Das war die erste Konzession, die seit 1936 erteilt worden war!



Sehr beeindruckend! Im Wesentlichen waren Sie Insurtech 1.0 in einer Zeit, als es keine Einhörner gab und Fintech und Insurtech noch nicht ihren Höhenflug angetreten hatten...


Im Rückblick kann man sagen, dass wir der Zeit tatsächlich ein wenig voraus waren. Machen wir nun einen Schnelldurchlauf und spulen die Zeit drei oder vier Jahre bis zum März 2012 vor. Da waren wir immer noch klein, aber bereits sehr wachstumsstark. Im Grunde versuchten wir etwas aufzubauen, das absolut sinnvoll war, aber mussten dabei noch viele Hürden überwinden. Dann brachten wir das Unternehmen in Tokio an die Börse und beschafften uns damit zusätzliches Kapital. Außerdem konnten wir Swiss Re dazu überreden, bei uns einzusteigen und unser Lead-Investor zu werden. Ein wenig später, im Jahr 2015, wurde KDDI, das zweitgrößte Telekommunikationsunternehmen Japans, zum größten Shareholder von Lifenet. Das Ganze war eine Reise in mehreren Etappen, und zwar eine sehr interessante.



Lifenet hat im Sommer 2018 sein zehnjähriges Bestehen gefeiert. Viele sagen, das Unternehmen steche nicht nur wegen seines Geschäftsmodells hervor, sondern auch wegen seiner Unternehmenskultur. Ungefähr 65 Prozent der Belegschaft stammt aus anderen Branchen. Können Sie uns ein wenig über diese spannende Phase bei Lifenet und die Rolle als erster Herausforderer in einem riesigen reifen Markt berichten?


Damals war Japan mit mehr als 400 Milliarden Dollar Prämienaufkommen jährlich der zweitgrößte Lebensversicherungsmarkt der Welt. Unsere Lösung war sehr einfach: Risikolebensversicherungen und Zusatzkrankenversicherungen, die online abgeschlossen wurden und transparent waren. Die Kunden profitierten von einer größeren Selbstbestimmung, das sparte Kosten und bot die Möglichkeit, diese Einsparungen an die Versicherten durchzureichen. Wir hatten Erfolge, mussten aber auch Herausforderungen und Rückschläge meistern. Ich muss sagen, dass ich wirklich stolz auf das bin, was wir bei Lifenet erreicht haben. Ich glaube, dass wir viele andere Herausforderer inspiriert haben, die unsere Überzeugung teilten, dass die traditionellen Versicherer ihre Kundeninteraktion, ihre Produktentwicklung und die Art und Weise, wie sie mit Millennials kommunizieren, verändern sollten. Wir haben damals aber noch nicht den Markt revolutioniert.





Nichtsdestotrotz haben sie einen nachhaltigen Eindruck auf die japanische Lebensversicherungsindustrie und wahrscheinlich auch die Versicherungsindustrie anderer Länder gemacht. Welche Lektionen haben Sie daraus gezogen?


Da kann ich Ihnen drei Lektionen nennen. Erstens verhalten sich Kunden nicht zwangsläufig wie rationale Wesen, die sich von einem ökonomischen Nutzenkalkül leiten lassen. Wenn Sie darüber nachdenken, ist das auch logisch. Wann haben Sie das letzte Mal eine Kaufentscheidung nach rein wirtschaftlichen Kriterien getroffen? Es geht also um wesentlich mehr, als Kunden Wert zu bieten. Zweitens haben Sie nicht automatisch den größten Marktanteil, nur weil Sie die besten Produkte haben. Die Geschichte hat wiederholt gezeigt, dass Unternehmen mit den besten Produkten nicht zwangsläufig zu den Gewinnern gehören. Das sind vielmehr die Unternehmen mit dem stärksten Vertrieb.
 Drittens ruft mir meine bescheidene Erfahrung einen Fall in Erinnerung, über den ich während meiner Zeit an der Business School gelesen hatte. Er handelte von Vertriebskanalstrategien im Marketing. Dort hieß es: "Sie können die Zwischenstufen ausschalten, aber Sie können nicht die Funktionen vollständig eliminieren, die diese Zwischenstufen erfüllen." Zwar sind wir davon überzeugt, dass wir mit einer direkten Kundenansprache erheblichen Wert generieren können, aber es gibt viele Gründe dafür, dass es schon immer Versicherungsagenten gegeben hat, und es gibt vielfältige Funktionen, die sie erfüllen und die nicht vollständig abgeschafft werden können, die aber auf unterschiedliche Weise repliziert werden müssen. Aus diesem Grund ist Technologie ein Instrument, das entweder Ihnen hilft, Ihren Verkauf von Lebensversicherungen produktiver zu machen, oder es hilft Kunden, Lebensversicherungen auf effizientere Weise abzuschließen. In den Jahren zwischen 2008 und 2018 haben die Verbraucher aber nicht jeden Morgen beim Aufwachen den dringenden Wunsch nach einem effizienteren Abschluss einer Lebensversicherung verspürt.



Technologie ist letztlich Mittel zum Zweck. Ende 2017 trat dann Keng Hooi, CEO der AIA Group auf Sie zu und bot Ihnen eine neue Herausforderung an.


Ja, und diese Sichtweise habe ich damals meinem heutigen CEO bei AIA nahegebracht. Angesichts seiner starken Vertriebspräsenz sollte sich AIA darauf konzentrieren, die Vorteile der Technologie zu nutzen, um die Handlungsautonomie des Vertriebs zu verbessern. Wenig später, als Lifenet im Sommer 2018 sein zehnjähriges Bestehen feierte, vollzog ich meinen persönlichen Wechsel vom Unternehmer zum Leiter der Digitalisierungs- und Innovationsinitiative für den größten panasiatischen Lebensversicherer.



In Europa ist den meisten Menschen AIA als Sponsor des Fußballklubs Tottenham Hotspur bekannt. Können Sie uns ein wenig mehr über das Unternehmen verraten?


AIA ist der größte unabhängige börsennotierte panasiatische Lebensversicherungskonzern mit einer Präsenz in 18 Märkten in der gesamten Asien-Pazifik-Region. Der Konzern hat seine Wurzeln in Shanghai, wo vor genau einem Jahrhundert – im Jahr 1919 – sein Vorläufer gegründet wurde. Ausgelöst von AIGs Liquiditätskrise im Jahr 2008, wurde das Unternehmen restrukturiert und anschließend an die Börse gebracht. Im Juni 2019 betrug der Marktwert von AIA 120 Milliarden Dollar, was uns gemessen an der Marktkapitalisierung zum größten Lebensversicherer weltweit macht.

So wird die Zukunft des Lebensversicherungsgeschäfts aussehen

Und nun haben Sie den Wechsel von einem Startup zu einem Großuntenehmen vollzogen. Was hat Sie dazu bewogen?

Der Grund ist genau die Größe und das, was ich mithilfe der AIA als Plattform potenziell bewirken kann. AIA bietet mir die Möglichkeit, Einfluss auf die Leben unserer 30 Millionen Kunden in 18 Märkten zu nehmen. Das ist eine äußerst spannende Chance. Ich bin aufrichtig davon überzeugt, dass wir uns in einer sehr interessanten Zeit bewegen, in der sich die grundlegende Natur eines Lebensversicherers deutlich wandelt – nämlich von einem reinen Geldauszahler zu einem lebenslangen Partner, der die Gesundheit und das Leben unserer Versicherungskunden unterstützt. Ich glaube aber auch, dass die Lebensversicherungsindustrie auf absehbare Zeit nicht revolutioniert werden wird, und das aus folgendem Grund: die sehr geringe Kauffrequenz des Produkts. Die Macht der Digitalisierung entfaltet ihre größte Wirkung bei Dingen, die häufig verkauft werden, wie Reisen oder Konsumartikel auf Amazon oder ähnliches. So wie Lebensversicherungen heute noch beschaffen sind, ist das nicht der Fall.

Wie sieht Ihrer Meinung nach die zukünftige Entwicklung aus?


Wir können durch die Digitalisierung einen hohen Mehrwert erzielen, allerdings hat das nur eine begrenzte Wirkung. Was wir tun können, ist, die Art des Engagements zu verändern. Engagement entsteht, wenn wir Ihnen im Krankheitsfall Geld auszahlen, oder wenn Sie an einer längeren oder chronischen Krankheit leiden und ein engagierterer Partner für den Erhalt oder die Wiederherstellung Ihres gesunden Lebens werden. Die Chance, dass digitale Angebote eine größere Wirkung entfalten werden, ist groß. Man muss sich nur einmal die Fundamentaldaten ansehen: Asiens Mittelschichts wird weiter wachsen. Diese Mittelschicht wird die Mehrheit der neu entstehenden weltweiten Mittelschicht stellen, die mit zunehmendem Wohlstand auch mehr Schutz für ihre Familie anstrebt. AIAs Wettbewerbsvorteil liegt in unserem extrem robusten und wettbewerbsfähigen Vertrieb, getragen von einem hoch disziplinierten Agenturmanagement und neuen Partnerschaften mit unseren Bank- beziehungsweise Telekommunikationspartnern, aber auch anderen nichttraditionellen Partnern, sowie unserem Fokus auf Gesundheit und Wohlbefinden.



Können Sie uns ein wenig über die Strategie erzählen, mit der Sie dieses Ziel verfolgen?

Wir haben vier strategische Bereiche identifiziert, auf die wir im Rahmen dieser Innovationsinitiative fokussieren wollen. Erstens die Digitalisierung des Vertriebs. Zweitens Kundenengagement und Ökosystem. Drittens die Weiterentwicklung unseres Wertangebots hauptsächlich im Zusammenhang mit Gesundheitstechnologie. Und viertens künstliche Intelligenz und Data Analytics. Wir suchen nach Unternehmen, die bereit sind, eine Basis in Asien zu schaffen, um uns angemessen zu unterstützen, die robuste Technologien und Lösungen anbieten und mit anderen Ländern in unseren 18 Märkten kooperieren, um die Vision, die ich Ihnen gerade präsentiert habe, Wirklichkeit werden zu lassen.“

Die Skalierung von Insurtech-Innovationen in Kooperation mit traditionellen Versicherungsunternehmen scheint schwierig zu sein. Nachdem Sie auch die andere Seite kennen, verfolgen Sie als erfahrener Unternehmer vermutlich einen anderen Ansatz als ein etablierter Versicherungskonzern ....
Daisuke: „Ich bin nicht daran intessiert, Innovation zu einem Selbstzweck zu machen. Ich will nur auf Dinge fokussieren, die echte Wirkung zeigen, und mit Wirkung meinen wir etwas, das Einfluss auf unsere Marktkapitalisierung von 120 Milliarden US-Dollar hat. Mir ist klar, dass Innovation nicht in einem isolierten Labor oder einem isolierten Konzernbüro geschehen kann. Innovation muss in strategische Prioritäten eingebettet sein, sie muss marktgetrieben sein und von den Ländern in ihrem tagtäglichen Wirtschaftsgeschehen vorangetrieben werden. Um das zu unterstützen, brauchen wir ein klares Budget. Wir müssen in enger Übereinstimmung mit unserem internen Technologieteam agieren, um reale Geschäfte aufzubauen und zu bewerten, und natürlich muss es einen Wandel in der Kultur und der Mentalität geben – beides Faktoren, die der Innovation und herausfordernden neuen Initiativen allzu oft im Weg stehen.



Wie gehen Sie in Ihrer aktuellen Rolle als CDO mit diesen Herausforderungen um?

Wie schon erwähnt, glaube ich, dass wir viel tun können, um unsere Vertriebspartner, unsere Agenten, Banken und Telekommunikationspartner dazu zu bewegen, den Verkauf von Lebensversicherungen produktiver zu gestalten, um die Erfahrung unserer Kunden zu bereichern und unsere Mitarbeiter und Kollegen in die Lage zu versetzen, deutlich effizienter zu arbeiten. Vor meinem Eintritt in das Unternehmen hatte AIA bereits digitale Initiativen gestartet. Letztes Jahr haben wir zum Beispiel als Investorengruppe kollektiv eine strategische Investition von 500 Millionen Dollar in WeDoctor getätigt. Dabei handelt es sich um eine Online-Plattform für Gesundheitslösungen, die nahtlos ineinandergreifende Online- und Offline-Gesundheitsservices und die Integration von Allgemeinmedizinern und Fachärzten in China anbietet. WeDoctor hat 27 Millionen monatliche aktive Nutzer. Wir glauben, dass wir mithilfe dieser strategischen Allianz unseren Kunden neue Wertangebote unterbreiten und auf die breite Kundenbasis von WeDoctor und vielen weiteren unserer digitalen Initiativen zugreifen können.

Was glauben Sie, wie die Zukunft des Lebensversicherungsgeschäfts aussehen wird?

Ich denke an viele Dinge, die sich in der Zukunft womöglich verändern, allerdings haben mich meine zehn Jahre Erfahrung mit Lifenet Demut gelehrt, was das tatsächliche Tempo und das Ausmaß der Veränderung des Kundenverhaltens betrifft. Was sich nicht verändern wird, ist die grundlegende Beschaffenheit des Produkts Lebensversicherung als Finanzlösung für den Zukunftsschutz von Familien. Allerdings achten wir sehr aufmerksam auf viele Veränderungen, die wir um uns herum erleben und die das Kundenverhalten und die Kundenerwartungen sowie die Rolle beeinflussen, die Lebensversicherer und Nicht-Lebensversicherer möglicherweise spielen werden. Ich hoffe, Sie können die Energie spüren, die von Asien ausgeht. Die Chancen, die vor uns liegen, erfordern ein ernsthaftes Bekenntnis zur weiteren Förderung unseres Wachstums mithilfe von Technologie und Innovation.“



Aus dem Englischen übersetzt von Almuth Braun