Die Neubildung also fast das wesentliche des SPD-Konzepts pointiert in einen Begriff. Doch nicht nur die gelungene Bedeutungsarbeit wird durch die Gesellschaft für deutsche Sprache honoriert. Sondern die Wahl veranschaulicht zugleich: Die Debatte zur Grundrente charakterisiert die politische Landschaft Deutschlands wie kaum ein zweites Thema in 2019. In diesem Kontext nennt die Presseerklärung der GfdS auch das Unterthema „Altersarmut“.
Wer nämlich wie die CDU/CSU eine Bedürftigkeitsprüfung fordert, will zusätzliches Geld nur zahlen bei wirklicher Bedürftigkeit, um zum Beispiel Auswirkungen von Altersarmut zu mildern. Die Respektrente hingegen belohnt das Prinzip der Teilhabeäquivalenz, und zwar auch ohne Bedürftigkeit: Honoriert werden langjährige Beitragszahlungen zur gesetzlichen Rente ab einer bestimmten Dauer. Bekommen aber Menschen dieses Geld auch dann, wenn sie (zum Beispiel durch Partner oder Vermögen) schon gut abgesichert sind, stehen die Beträge nicht mehr für die Armutsbekämpfung zur Verfügung. In diesem Sinne geraten beide Ziele tendenziell in einen Widerspruch – wer bedingungslos „Respekt“ zeigt über die neue Leistung, hat gezahltes Geld nicht mehr für die Armutsbekämpfung übrig.
Derartige Debatten gewinnen Brisanz auch aufgrund des demografischen Wandels: Die gesetzliche Rentenversicherung ächzt unter den Folgen einer alternden Gesellschaft. Für die Zukunft werden steigende Vorsorgelücken prognostiziert (der Versicherungsbote berichtete). Die Politik muss also Antworten liefern, wie eine alternde Gesellschaft finanziert werden soll und wofür knappes Geld ausgegeben werden soll.
Die Wahl zum „Wort des Jahres“ darf hierbei jedoch nicht im Sinne einer politischen Positionierung zugunsten des SPD-Konzepts fehlinterpretiert werden. Denn die Wahl gilt der Bedeutung des Begriffs nach Maßgaben der Sprachpflege.
Der leidliche Kompromiss: „Grundrente“ verdrängt „Respektrente“
Wie aber geht es nun mit der „Respektrente“ weiter? Auffallend ist: Um den Begriff ist es still geworden. Hingegen erlebt der Ausdruck „Grundrente“ auch innerhalb der SPD eine Renaissance. Das könnte damit zu tun haben, dass bei Einigung der großen Koalition herbe Zugeständnisse nötig waren: Im November präsentierte die Regierung einen Kompromiss, bei dem die Rente nach einer automatisierten Einkommensprüfung durch elektronischen Datenausgleich der Behörden gezahlt wird, wie der Versicherungsbote berichtete.
Die SPD lehnt laut Focus in diesem Kontext ab, die „Einkommensprüfung“ als „Bedürftigkeitsprüfung“ zu bezeichnen – und agiert hier weniger geschickt als bei Schaffung des Begriffs „Respektrente“. Denn Zahlungen der Rentenleistung werden ja nun doch von einer Prüfung der Bedürftigkeit abhängig gemacht – zumindest unter milderen Vorgaben.
An diesem Beispiel lässt sich ein anderes Verhalten der Politik beobachten, und zwar entgegen der Sprachpflege: Begriffe werden tabuisiert, um einen Sachverhalt zu verschleiern. Zugleich aber darf mit Annegret Kramp-Karrenbauer die CDU-Chefin freudig verkünden: Wenn man „so wolle“, gäbe es auch „eine Bedürftigkeitsprüfung“.
Derweil nutzt die Union die Grundrente als Druckmittel gegen das neue Führungsduo der SPD, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Diese haben wiederholt den Fortbestand der Großen Koalition in Zweifel gezogen. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte am Dienstag dem Nachrichtensender n-TV, die CDU lege das Thema Grundrente auf Eis: bis sich die SPD zum Fortbestand der Großen Koalition bekannt hat. Eine "Linksverschiebung der SPD kann auf keinen Fall eine Linksverschiebung der Koalition bedeuten", sagte Kramp-Karrenbauer. Sie wolle abwarten, ob nach dem Parteitag nun Forderungen von der SPD kommen: Der Koalitionsvertrag werde aber nicht neu verhandelt.