Berufsunfähigkeitsversicherung: „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“, lautet ein bekanntes Vorurteil aus der Gerichtswelt. Was für das Strafrecht noch unter bestimmten Einschränkungen gelten mag, ist jedoch nicht so einfach auf das Vertragsrecht zu übertragen. Das zeigt ein aktueller Beschluss des Bundesgerichtshofs zum Versicherungsvertragsgesetz. Demnach ist eine Obliegenheit bei Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung nur verletzt, wenn der Versicherungsnehmer eine Vorerkrankung auch als Gefahrenumstand für den Versicherer erkennt.
Beantwortung der Gesundheitsfragen: Die wichtige Obliegenheit
Zu den wichtigsten Obliegenheiten des Versicherungsnehmers bei Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung gehört die Beantwortung der Gesundheitsfragen nach bestem Wissen und Gewissen. Denn die sogenannte „vorvertragliche Anzeigepflicht“ fordert nach Paragraph 19 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) vom Versicherungsnehmer, bei Abgabe einer Vertragserklärung jene „ihm bekannten Gefahrumstände“ anzuzeigen, „die für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich sind.“
Antwortet ein Versicherungsnehmer aber nicht nach bestem Kenntnisstand, drohen ernste Folgen. So darf der Versicherer in diesen Fällen zum Beispiel vom Vertrag zurücktreten – im schlimmsten Fall verliert der Versicherungsnehmer trotz langjähriger Zahlungen den Versicherungsschutz und damit den Anspruch auf Leistungen. Auch ermöglicht Paragraph 19 Abs. 4 VVG eine rückwirkende Vertragsanpassung, die ebenfalls einen Verlust des Leistungsanspruchs für bestimmte Risiken bedeuten kann.
Dass eine rückwirkende Vertragsanpassung aber nur unter strengen Bedingungen erlaubt ist, machte letztjährig ein Hinweisbeschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) mit Datum vom 25. September 2019 deutlich (Az. IV ZR 247/18). Dieser Beschluss ist nicht nur wesentlich für Fristen, innerhalb denen ein Versicherer seine Rechte geltend machen muss. Zugleich veranschaulicht der Beschluss des Bundesgerichtshofs auch, wann überhaupt die Obliegenheit verletzt wurde. Denn nur, wenn der Versicherungsnehmer auch Kenntnis von den Gefahrenumständen hatte, greifen bestimmte Rechte aus Paragraph 19 Abs. 2 bis 4 für den Versicherer.
Der Fall: Versicherungsnehmer schätzte Fraktur am Knöchel falsch ein
Grund des Rechtsstreits war eine Ausschlussklausel. Diese wurde von einem Versicherungsunternehmen nachträglich aufgenommen, um Leistungen aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung auszuschließen. Hatte doch ein Versicherungsnehmer mit Antrag vom 30. April 2009 eine kapitalbildende Lebensversicherung mit einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung abgeschlossen. Der Versicherungsschutz trat ab 01. Mai 2009 in Kraft. Ein wichtiger Gefahrenumstand jedoch war dem Versicherungsunternehmen bei Abschluss des Vertrags nicht bekannt geworden.
Verschwieg der Versicherungsnehmer doch, mit Rat eines Versicherungsvertreters, beim Ausfüllen der Gesundheitsfragen eine Fraktur am Knöchel des linken Beins. Diese Verletzung erlitt der Mann sogar kurz vor Abschluss des Versicherungsvertrags. Aufgrund der Fraktur wurde der Versicherungsnehmer vom 12. November 2008 bis 16. November 2008 stationär behandelt, war zudem bis Januar 2009 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Und doch riet der Versicherungsvertreter ganz bewusst dazu, die erlittene Verletzung nicht anzugeben.
Denn im Antragsformular der Versicherung wurde zwar nach „Unfällen“ gefragt, jedoch unter der Ergänzung: „Unerheblich sind einfache, folgenlos verheilte Knochenbrüche ohne Gelenkbeteiligung“. Als einen solchen folgenlos verheilten Knochenbruch deuteten die medizinischen Laien die Verletzung am Knöchel – „unerheblich“ und damit kein Gefahrenumstand für den Versicherer.
Versicherer behalf sich mit Ausschluss-Klausel – nachträglich
Freilich: Die Einschätzung erwies sich als Irrtum. Das kam aufgrund einer weiteren Erkrankung des Mannes ans Licht. Denn in den Jahren 2013 bis 2015 wurde der Versicherungsnehmer tatsächlich berufsunfähig, bezog auch Leistungen aufgrund des BU-Bausteins seiner Police. Im Rahmen der Leistungsprüfung aber erfuhr der Versicherer des Mannes auch von der Fraktur in 2008. Außerdem erfuhr der Versicherer, dass der Mann sich getäuscht hatte: Entgegen dessen Annahme lag doch eine Gelenkbeteiligung vor – und das im sensiblen Bereich um den Knöchel. Somit wusste der Versicherer nun von einem wesentlichen Gefahrenumstand, weswegen er – mit Schreiben vom 23. Dezember 2014 – eine neue Vereinbarung in den Vertrag aufnehmen wollte, rückwirkend ab Vertragsbeginn.
Eine Klausel nämlich sollte sämtliche Ansprüche wegen Berufsunfähigkeit vom Versicherungsschutz ausschließen, deren Ursache die Unfallverletzung am linken Außenknöchel des Fußes oder nachgewiesene Folgen dieses Leidens bilden. Der Versicherer berief sich auf sein vermeintliches Recht aus Paragraph 19 Absatz 4 Satz 2 Versicherungsvertragsgesetz. Demnach können Veränderungen auch bei einer vom Versicherungsnehmer nicht zu vertretenden Pflichtverletzung Vertragsbestandteil werden.
Klage gegen den Versicherer brachte Gewinn in allen Vorinstanzen: Frist nicht bedacht
Eine solche Minderung seines BU-Schutzes aber wollte sich der Versicherungsnehmer nicht gefallen lassen – er klagte gegen die nachträgliche Abänderung des Vertrags und damit gegen seinen Versicherer. Und die Vorinstanzen gaben dem Versicherungsnehmer Recht – erst das Landgericht (LG) Landshut mit Urteil vom 09.02.2018 (Az. 73 O 3522/16) und dann das Oberlandesgerichts (OLG) München mit Urteil vom 28. September 2018 (Az. 25 U 851/18).
Denn eine Fristenregelung in Paragraph 21 Abs. 3 VVG gibt vor, dass Rechte des Versicherers nach Paragraph 19 VVG fünf Jahre nach Vertragsabschluss geltend gemacht werden müssen. Ansonsten erlischt der Anspruch auf diese Rechte. Fünf Jahre aber waren bereits verstrichen, als der Versicherer in 2014 sein Schreiben für die Abänderung des Vertrags verschickte. Zumal der Versicherungsfall, der 2013 eintrat, keine Verbindung zur 2008 ereilten Fraktur aufwies und somit die Frist auch nicht verlängerte.
Der Versicherer jedoch wollte sich mit den Urteilen der Vorinstanzen nicht zufrieden geben. Nachdem erst das Landgericht dem Versicherungsnehmer Recht gegeben hatte sowie das Oberlandesgericht die Berufung gegen das Urteil zurückwies, sollte es nun die Revision vor dem Bundesgerichtshof für den Versicherer richten. Erfolg jedoch brachte der Weg durch die Instanzen nicht. Der Hinweisbeschluss des Bundesgerichtshofs machte nun deutlich: Der für Versicherungsrecht zuständige Senat plant, die Revision zurückzuweisen. Nach diesem Hinweisbeschluss zog der Versicherer die Revision auch tatsächlich zurück. Das Urteil gilt folglich als rechtskräftig.
Unwissenheit… kann vor negativen Konsequenzen schützen
Ein wesentlicher Grund für diesen Hinweisbeschluss des BGH: Eine Verletzung der Anzeigepflicht durch den Versicherungsnehmer liegt gar nicht vor, weswegen auch Rechte für den Tatbestand nicht greifen. Denn deutlich stellt der Bundesgerichtshof heraus: Die Obliegenheit, dem Versicherer bestimmte Umstände anzuzeigen, setzt stets voraus, dass der Versicherungsnehmer überhaupt Kenntnis von diesen Umständen hat. Das gilt zum Beispiel, wenn unter Berufung auf Paragraph 21 VVG eine verlängerte Frist für eine nachträgliche Vertragsabänderung geltend gemacht werden soll. Denn Abs. 3 des Paragraphen definiert deutlich: Die Verletzung der Anzeigepflicht durch den Versicherungsnehmer muss „vorsätzlich oder arglistig“ erfolgen. Ist dies der Fall, verlängert sich die Frist für Rechte gemäß Paragraph 19 VVG sogar auf zehn Jahre ab Vertragsabschluss.
Nur: Unwissenheit schließt den Vorsatz aus – und damit auch eine verlängerte Frist für den Versicherer bei Ausübung seiner Rechte. Mehr noch: Dass die Anzeigepflicht nur durch Kenntnis zu verletzen ist, kann grundsätzlich für Rechte des Paragraphen 19 angenommen werden. So ist zum Beispiel das Rücktrittsrecht des Versicherers nach Abs. 3 ausgeschlossen, wenn „der Versicherungsnehmer die Anzeigepflicht weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt hat“ – trotz fehlender Angaben bei der Antragstellung muss ein BU-Versicherer in solchen Fällen leisten.
Aber auch für eine Anpassung des Vertrags hat der Versicherer nur eingeschränkte Rechte, wenn der Vorsatz des Versicherungsnehmers fehlt. Denn bei einer „vom Versicherungsnehmer nicht zu vertretenden Pflichtverletzung“ steht gemäß Paragraph 19 Abs. 4 höchstens eine Abänderung der Bedingungen ab der laufenden Versicherungsperiode zu, nicht jedoch eine rückwirkende Abänderung ab Vertragsbeginn – dies betrifft den verhandelten Fall. Und wie im verhandelten Fall kann eine solche Abänderung nur unter Einhaltung der kürzeren Fünf-Jahres-Frist aus Paragraph 21 erfolgen. Weil diese Frist aber verstrichen war, hat der Versicherer zur Abänderung des Vertrags kein Recht mehr, wie der BGH beschied.
Folglich liegen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision laut BGH nicht vor. Der Versicherer muss die nachträgliche Ausschlussklausel wieder aus dem Vertrag nehmen und sämtliche Anpassungen zurücknehmen. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs kann online abgerufen werden.