In der Coronakrise könnten Beitragszahler zur Rentenkasse übermäßig stark belastet werden, weil der sogenannte Nachholfaktor vor zwei Jahren bis 2026 außer Kraft gesetzt wurde. Darunter leide die Generationen-Gerechtigkeit, geben nun die Rentenexperten Axel Börsch-Supan und Bert Rürup zu bedenken. Was dahinter steckt.
Es wirkt wie ein Versehen: Um jene „Doppelte Haltelinie“ der letzten Rentenreform für Rentenniveau und Brutto-Beitrag zu sichern, kappte das Ministerium von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) einen wichtigen Ausgleichsmechanismus zwischen Rentnerinnen/ Rentnern und Beitragszahlern. Denn der „Nachholfaktor“ sorgte in der Rentenanpassungsformel dafür, dass Beitragszahler in Gegenleistung zu einer Schutzklausel gegen Rentenminderungen nicht zu stark bei sinkenden Durchschnittslöhnen belastet werden. Dass ausgerechnet in Zeiten eines Lohneinbruchs durch die Corona-Krise der Nachholfaktor nicht greift, könnte sich nun als fatal erweisen.
Zumal dieser Nachholfaktor still und leise bis 2026 außer Kraft gesetzt wurde. Mit Axel Börsch-Supan und Bert Rürup wiesen nun aber zwei wichtige Stimmführer der einstigen „Kommission für die Nachhaltigkeit” auf den Fauxpas der Regierung hin – und machen den Nachholfaktor sogar zur Chefsache von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Versicherungsbote stellt vor, warum in Zeiten von Corona ein kleiner Textabschnitt der letzten Rentenreform zum Problem werden könnte.
Dämpfungsfaktoren: Die Rechengrößen für Generationen-Gerechtigkeit
The same procedure as every year: Regelmäßig zum 1. Juli eines jeden Jahres werden in Deutschland die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung (RV) an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst. Grundlegend ist eine komplizierte „Rentenanpassungsformel“. Diese erfasst, gemäß Paragraph 68 des Sechsten Sozialgesetzbuchs (SGB VI), die Veränderung der Bruttolöhne je Arbeitnehmer sowie die Veränderung des Beitragssatzes zur allgemeinen Rentenversicherung. Auch definiert der Paragraph einen sogenannten „Nachhaltigkeitsfaktor“ – eingeführt mit dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom 21. 7. 2004.
Die komplizierte Berechnung der Rentenanpassung ist deswegen notwendig, um eine ausgeglichene Balance zwischen der Beitragslast der Beschäftigten und der Rentenhöhe zu erreichen. Sogenannte "Dämpfungsfaktoren" gewährleisten dies. So soll zum Beispiel der Nachhaltigkeitsfaktor Veränderungen im zahlenmäßigen Verhältnis von Leistungsbeziehern und Beitragszahlern abbilden: Wächst die Zahl der Leistungsbezieher gegenüber der Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten, bremst der Faktor in der Anpassungsformel eine mögliche Rentenerhöhung aus. Auch sorgt der sogenannte „Beitragssatzfaktor“ dafür, dass ein Anstieg des Beitragssatzes die Rentenerhöhung im Folgejahr ausbremst.
Zeitverzögerte Rentenanpassung: In Corona-Zeiten ein Problem
Denn Renten werden immer mit einjähriger Verspätung an die volkswirtschaftliche Entwicklung und damit dem Trend der durchschnittlichen Löhne der Gesamtbevölkerung angepasst. Dass eine solche zeitverzögerte Anpassung zum Problem werden kann, wird in Zeiten der Corona-Pandemie deutlich: Obwohl durch Lockdown und Kurzarbeit die durchschnittlichen Löhne der Gesamtbevölkerung in den sprichwörtlichen Keller gehen, freuen sich Rentnerinnen und Rentner über ein auffallendes Rentenplus ab ersten Juli – die Bezüge im Westen steigen um 3,45 Prozent, die Bezüge im Osten um knapp 4,2 Prozent (der Versicherungsbote berichtete). War doch 2019 ein gutes Jahr für die deutsche Wirtschaft, was sich nun, zeitversetzt, auch für Rentnerinnen und Rentner „auszahlt“ trotz Pandemie. Und nächstes Jahr?
Rentenanpassung ins Minus? Durch Schutzklausel ausgeschlossen
Im nächsten Jahr wäre eigentlich zu erwarten, dass die Renten aufgrund der Corona-Pandemie zeitversetzt sinken müssten durch die Anpassungsformel, weil das Plus der letzten guten Jahre durch das hohe Lohn-Minus der Pandemie geschluckt wird. Ein solches Szenario aber wird nicht stattfinden. Zwar führte man mit dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz in 2004 jene Dämpfungsfaktoren in die Anpassungsformel ein, die aufgrund des demografischen Wandels die Rentenanpassung ausbremsen und damit Beitragszahler schützen sollen.
Zugleich definierte man über das Sechste Sozialgesetzbuch aber – im Gegenzug – eine sogenannte Schutzklausel in Paragraph 68a. Diese Klausel sollte nun die Rentnerinnen und Rentner davor schützen, dass die Dämpfungsfaktoren in der Anpassungsformel real zu einer Rentenkürzung führen. Die Anpassung also kann zwar „Nullrunden“ ergeben. Ein Minus aber ist durch das Gesetz ausgeschlossen: Die Renten dürfen nicht sinken.
Nachholfaktor – der Schutz der Beitragszahler
Die Schutzklausel aber droht nun mit einem neuen Ungleichgewicht und birgt neue Risiken für die Beitragszahler: Die Versicherten müssen mitunter höhere Renten umlagefinanziert schultern, als es die wirtschaftliche Entwicklung rechtfertigen würde. Aus diesem Grund wurde in 2006 nachgebessert und die Schutzklausel für Rentnerinnen und Rentner um eine Schutzklausel für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler ergänzt – dies geschah im Zuge des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes.
Durch das Gesetz nämlich wurde nicht nur die sogenannte "Rente mit 67", sondern auch der sogenannte „Nachholfaktor“eingeführt – und ebenfalls in Paragraph 68a SGB VI festgeschrieben. Der Nachholfaktor sichert zu, dass zwar die Renten auch dann nicht gekürzt werden, wenn sie gemäß Rentenanpassungsformel sinken müssten. Allerdings wird die Rentenkürzung zu der Bedingung ausgesetzt, dass spätere Rentenerhöhungen halbiert werden, um die unterbliebene Anpassung, die zulasten der Beitragszahler ging, im Nachhinein wieder auszugleichen.
Der „Nachholfaktor“ sichert also ausgleichende Gerechtigkeit: Rentnerinnen und Rentner bekommen den aktuellen Rentenwert auch bei wirtschaftlich schlechter Entwicklung garantiert, sie verzichten im Gegenzug aber auf einen Teil der Rentenerhöhungen, wenn es der Wirtschaft wieder besser geht.
Demographischer Wandel provoziert „Haltelinien“: Nachholfaktor ausgesetzt
Nun waren aber die Reformen in Folge der „Kommission für die Nachhaltigkeit“ ab 2004 nicht nachhaltig genug, um auf das Ausmaß des demografischen Wandels zu reagieren. Und das gilt, obwohl in 2007 mit dem RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz die Erhöhung des Rentenalters von 65 Jahre auf 67 Jahre beschlossen wurde: Der Übergang zur „Rente mit 67“ wird, nach schrittweiser Erhöhung der Regelaltersgrenze für eine abschlagfreie Altersrente, im Jahre 2029 abgeschlossen sein. Dennoch sind aktuelle Rentenreformen eher darauf angelegt, Zeit zu gewinnen statt Nachhaltigkeit zu generieren.
Das zugrundeliegende Problem – seit Jahren bekannt – veranschaulicht mit aktuellstem Stand die jüngste Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts (Destatis): Die Alterung der Gesellschaft lässt sich nicht aufhalten. Die Zahl der Menschen im Alter ab 67 Jahren stieg bereits zwischen 1990 und 2018 um 54 Prozent von 10,4 Millionen auf 15,9 Millionen und wird bis 2039 um weitere fünf bis sechs Millionen auf mindestens 21 Millionen anwachsen.
Anders hingegen der Trend bei den Menschen im Erwerbsalter zwischen 20 und 66 Jahren: Deren Zahl wird voraussichtlich bis 2035 um vier bis sechs Millionen abnehmen. Für die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung (GRV) bedeuten solche Zahlen: Immer weniger Beitragszahler müssen für immer mehr Rentner aufkommen.
Da verwundert es kaum, wenn einige Maßnahmen des umfangreichen Reformpakets, das im November 2018 als RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz erst den Bundestag und dann den Bundesrat passierte, sich eher wie Strategien für ein Rückzugsgefecht ausnehmen. Das trifft auch für jene „doppelte Haltelinie“ für das Rentenniveau und den Beitragssatz zu.
Denn beschlossen wurde über das Gesetz:
- Das Rentenniveau als Verhältnis zwischen a) einer Rente nach 45 Jahren Berufstätigkeit bei Durchschnittsverdienst sowie b) einem aktuellen Durchschnittsverdienst. Das Verhältnis darf bis 2025 nicht auf einen Prozentsatz unter 48 Prozent sinken.
- Auch darf der Brutto-Beitrag, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam zur Rentenversicherung zahlen müssen, bis 2025 einen Satz von 20 Prozent nicht übersteigen.
Ausgleichender Nachholfaktor fiel doppelter Haltelinie zum Opfer: Paragraph 255g SGB VI
Mit Mühe also wird nun zumindest für eine bestimmte Zeit eine Garantie für Rentenniveau und Brutto-Beitrag gegeben bis ins Jahr 2025. Damit aber die Garantie greifen kann, wurde ausgerechnet im Nachholfaktor ein Problem gesehen. Und das, obwohl der Nachholfaktor zum Schutz vor wirtschaftlichen Krisen mit starkem Lohnrückgang in der Gesamtbevölkerung dient – wie aktuell geschehen durch die Corona-Pandemie.
Denn der Nachholfaktor hätte die Garantie für das Rentenniveau aushebeln können: Das garantierte Sicherungsniveau von 48 Prozent als Verhältnis einer Durchschnittsrente zum Durchschnittsverdienst hätte nachträglich durch eine Verrechnung in Frage gestellt werden können. Dies führt die Begründung zum Gesetzentwurf in 2018 aus. Dass eine Situation wie derzeit durch Corona wirklich eintritt, hielt man damals wohl für unwahrscheinlich.
Also schrieb man sich über das RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz eine Übergangslösung ins Sechste Sozialgesetzbuch, die bestimmt, dass eine Berechnung des Ausgleichsbedarfs nach Paragraph 68a bis zum 30. Juni 2026 nicht erfolgt – Grundlage hierfür ist Paragraph 255g SGB VI. Damit hatte man aber just einen Schutzmechanismus ausgehebelt, der gerade während der Corona-Pandemie notwendig wäre.
Denn wenn nun im nächsten Jahr tatsächlich durch Einbruch der Löhne eine Rentenanpassung nach unten geboten wäre, wird im ersten Schritt eine Rentenanpassung im Sinne der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nicht stattfinden: Die Schutzklausel greift und sichert, dass es nicht zum Sinken der Renten kommt. Der zweite, ausgleichende Schritt aber fehlt: Der Mechanismus, der diese fehlende Anpassung in den Folgejahren wieder ausgeglichen hätte, ist nun bis 2026 außer Kraft gesetzt. Die Rechnung geht letztendlich zulasten der Beitragszahler.
Aussetzen des Nachholfaktors: Gefahr auch für Steuerzahler
Nun könnte man natürlich argumentieren: Es gäbe ja durch die „doppelte Haltelinie“ auch eine Garantie für den Brutto-Beitrag, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam zur Rentenversicherung zahlen müssen (bei einer Obergrenze von 20 Prozent). Dennoch aber könnte sich für Beitragszahler – auch indirekt – das Aushebeln des Schutzmechanismus als Bumerang erweisen. Denn wenngleich die Garantie für die Beiträge zumindest bis 2025 gegeben ist, muss schon ohne Corona der Staat zwischen 2022 und 2025 – gemäß Gesetzentwurf – je 500 Millionen Euro jährlich zuschießen aus Steuergeldern, um die doppelte Haltelinie zu sichern.
Reißt die Pandemie nun noch größere Löcher in die Rentenkasse, werden noch mehr Steuergelder gebraucht. Fehlender Ausgleich durch Aussetzen des Nachholfaktors geht also mit großer Wahrscheinlichkeit zulasten der Beschäftigten – durch Steuern oder durch ein späteres und größeres Ansteigen der Beiträge.
Nachholfaktor wird zur Chefsache: Kanzlerin äußert sich
Es verwundert kaum, dass nun – in Zeiten der Corona-Pandemie – herbe Kritik am Aussetzen des Nachholfaktors geübt wird. Und diese Kritik greift doppelt den Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und sein Ministerium an. Denn zum einen wird kritisiert, dass überhaupt der Nachholfaktor ausgesetzt wurde fast ohne Not – nun in Zeiten der Pandemie ein Verhängnis zulasten der Beitrags- und Steuerzahler und letztendlich der Nachhaltigkeit in der Rentenversicherung. Zum anderen wird kritisiert, wie dies geschah: Unbemerkt durch die Öffentlichkeit und versteckt in den vielen Maßnahmen des Rentenpakets.
Rürup und Börsch-Supan kritisierten zuerst: Balance zwischen Jungen und Alten sei außer Kraft gesetzt
So brauchte es auch zwei ausgewiesene Rentenexperten, damit die Öffentlichkeit überhaupt auf dieses Problem aufmerksam wurde: Volkswirtschaftler Axel Börsch-Supan als ehemaligen Leiter der Nachhaltigkeits-(„Rürup“)-Kommission sowie Bert Rürup als Namensgeber dieser Kommission und ehemaliger Vorsitzender der „Wirtschaftsweisen“.
Erst auf Hinweis beider Experten gab die Bundesregierung den Eingriff in die Anpassungsformel überhaupt zu, wie die Süddeutsche aktuell berichtet. Und Börsch-Supan kritisiert nun: Weil steigende Beiträge drohen durch einen ausgehobelten Anpassungsmechanismus zwischen Leistungsempfängern und Beitragszahlern, hätte die Bundesregierung „die Balance zwischen den Jungen und den Alten außer Kraft gesetzt“.
Merkel: Problem komme frühestens 2022 zum Tragen
Und die Süddeutsche berichtet zudem in einem weiteren Artikel: Das Problem „Nachholfaktor“ ist mittlerweile bei der Bundeskanzlerin Angela Merkel angekommen. Das liegt an einer Regierungsbefragung Mitte Mai, bei der Bundestagsabgeordneter Johannes Vogel (FDP) die Kanzlerin mit dem Problem konfrontierte.
Auch Merkel schien zunächst nicht einmal informiert, dass der Nachholfaktor ausgesetzt ist. Denn laut Süddeutsche antwortete Merkel: "Wenn es so wäre, dass der Nachholfaktor bis 2025 ausgesetzt ist, würden wir darüber noch mal reden."
Nun aber hat Bundestagsabgeordneter Vogel durch Merkel einen Brief erhalten, in dem es zur Forderung eines Korrektur des Eingriffs in 2018 heißt: Der beschriebene Effekt, dass die Renten stärker als die Löhne steigen könnten, komme "frühestens bei der Rentenanpassung zum 1. Juli 2022 zum Tragen". Derzeit bedürfe es also "keiner Änderung der Rentenanpassung“.
FDP-Sozialpolitiker Vogel urteilt harsch über diese Worte: Die Bundesregierung wolle „ihren eigenen Scherbenhaufen nicht etwa aufkehren, sondern der nächsten Bundesregierung vor die Füße kippen". Wird doch die nächste Bundestagswahl voraussichtlich im Jahr 2021 stattfinden – und erst danach werden sich die Auswirkungen eines ruhiggestellten Nachholfaktors zeigen.