Ein Versicherungsnehmer kann auch Anspruch auf eine Berufsunfähigkeits-Rente haben, wenn er eine neue Tätigkeit ausübt, ohne das Niveau des vorherigen Berufs zu erreichen. Das zeigt ein Urteil des Landgerichts Heidelberg zur sogenannten "konkreten Verweisung".
Gemäß Paragraf 172 Absatz 2 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ist berufsunfähig, wer seinen zuletzt ausgeübten Beruf infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall ganz oder teilweise nicht mehr ausüben kann (Versicherungsbote berichtete). Die Beeinträchtigung muss voraussichtlich von Dauer sein – in der Branche hat sich eine Mindestdauer von sechs Monaten als Standard etabliert. Auch muss die Beeinträchtigung mindestens 50 Prozent betragen. Noch vor einigen Jahren allerdings hatten nicht wenige Versicherungsnehmer trotz erfüllter Voraussetzungen das Nachsehen.
Der Trick mit der Verweisung
Denn Versicherer behalfen sich mit einer „abstrakten Verweisung“ – einer Klausel, die es ermöglichte, Kunden bei Berufsunfähigkeit einfach auf andere Tätigkeits- und Berufsfelder zu verweisen. Die bloße "abstrakte" Möglichkeit einer Berufsaufnahme reichte da schon – die Tätigkeit musste real gar nicht ausgeübt werden. Mit der abstrakten Verweisung hebelten sich Versicherer aus der Leistungspflicht. Diese Unsitte zu Lasten der Kunden aber ist heutzutage beinahe vom Markt verschwunden: die meisten Anbieter haben die Klauseln aus den Verträgen getilgt. Denn Verbraucherschützer und Ratingagenturen, aber auch Makler sorgten dafür, dass abstrakte Verweisungen zum Hemmschuh für den Absatz wurden.
Verweisen geht auch fair
Anders hingegen verhält es sich mit der konkreten Verweisung – und damit der faireren Schwester der abstrakten Verweisung. Diese nämlich ist in den meisten Vertragswerken noch immer Standard wie eh und je. Behalten sich doch Versicherungsunternehmen vor, auf Berufe zu verweisen, die in Ausbildung und Erfahrung sowie der Lebensstellung dem bisherigen Beruf entsprechen. Anders als bei der abstrakten Verweisung muss der Versicherte die Tätigkeit zudem tatsächlich ausüben: Die Gefahr ist also wesentlich geringer, dass er keine BU-Rente erhält. Und warum auch nicht? Da in solchen Fällen trotz einer Berufsunfähigkeit die Lebensstellung gewahrt bleibt, wäre eine Rentenzahlung unnötig auch im Sinne des Versichertenkollektivs.
Kann aber ein Versicherungsunternehmen eine BU-Rente unter Berufung auf die konkrete Verweisung per se einstellen, sobald der Versicherte von sich aus eine neue Tätigkeit aufnimmt? Er kann dies nicht, solange die neue Tätigkeit der alten nicht ebenbürtig ist. Das zeigt ein Urteil des Landgerichts (LG) Heidelberg mit Datum vom 25.01.2019 (Az. 4 O 165/16).
Versicherungsnehmer stellt Antrag auf BU-Rente – und nimmt neue Tätigkeit auf
Verhandelt vor dem Landgericht wurde die Klage eines Industriemechanikers gegen seinen BU-Versicherer. Der Mann hatte dreizehn Jahre in einer metallverarbeitenden Firma gearbeitet. Seine Aufgabe bestand darin, verschiedene Drehmaschinen und Pressen zur Herstellung von Fertigteilen zu bedienen – die Arbeit belastete die Wirbelsäule stark, da 300 bis 400 Teile in der Stunde gefordert waren. Das führte ab 2012 zu starken Rückenschmerzen, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machten. Die Ärzte diagnostizierten ein degeneratives Wirbelsäulenleiden.
Der Zustand verschlimmerte sich: Ab 2014 ließ sich der Mann dauerhaft krankschreiben und begab sich mehrfach in Kliniken. Aufgrund der Schmerzen konnte er die Arbeit nicht mehr aufnehmen. Also stellte er in 2015 bei seinem BU-Versicherer einen Antrag auf Leistungen wegen Berufsunfähigkeit. Im selben Jahr allerdings nahm er bei seinem alten Arbeitgeber eine neue Tätigkeit auf – als Lagerist.
Die Versicherung zahlte nun zwar für die Zeit der Krankschreibung bis 2015. Sie verneinte aber eine Rechtspflicht zu diesen Zahlungen. Zudem lehnte das Unternehmen jede weitere Leistung ab – wäre doch eine Berufsunfähigkeit gemäß Versicherungsbedingungen nicht hinreichend nachgewiesen. Zumal der Mechaniker ja nun einem Beruf nachgehen würde, der seiner bisherigen Tätigkeit entspricht. Die verweigerte Einstandspflicht wollte sich der Mechaniker aber nicht gefallen lassen – und verklagte das Versicherungsunternehmen auf Zahlung der vertraglich zugesicherten Rente bis zum Ende der Vertragslaufzeit in 2028. Ebenso wollte der Mann aufgrund der Berufsunfähigkeit von den Beiträgen freigestellt werden.
Beweisaufnahme: Der Gang ins Detail
Was nun vor Gericht folgte, war eine komplexe Beweisaufnahme: Neben der medizinischen Diagnose ist eine ganz konkrete Arbeitsbeschreibung gefordert bis in jeden Arbeitsschritt hinein – sowohl zur Feststellung der Berufsunfähigkeit als auch für den Vergleich beider Tätigkeiten. Und zwar für alle Maschinen, an denen der Mechaniker eingesetzt wurde. Keinen Zweifel gab es an dem gesundheitlichen Zustand des Klägers: Das Gericht bestellte extra einen führenden Orthopäden der Universitätsklinik des Saarlands als Experten ein, der verschiedene ärztliche Befunde sowie Kernspinaufnahmen und Röntgenbilder auswertete.
Demnach muss der Mechaniker aufgrund seiner Wirbelsäulenerkrankung das Heben, Tragen und Bewegen schwerer Lasten vermeiden. Auch darf er keine Arbeit ausüben, bei der er konstanten Zwangshaltungen ausgesetzt ist. Verursachen solche Tätigkeiten bei ihm doch Schmerzen, die nicht zumutbar sind.
Ein Lagerist macht noch keinen Facharbeiter
Doch mit diesem medizinischen Befund ist es noch nicht getan – in einem zweiten Schritt muss geprüft werden, ob die Arbeit des Versicherungsnehmers tatsächlich zu unzumutbaren Belastungen führt. Für diese Überprüfung wurden nun mehrere Zeugen aus dem Unternehmen angehört, die detailliert die Arbeitsabläufe für jede Maschine beschrieben.
Es zeigte sich: Die Arbeit erfordert eine Vielzahl jener Bewegungen, die dem Mechaniker nicht mehr zuzumuten sind – zum Beispiel eine Beuge-/Verdrehbewegung des Oberkörpers, die viele hundert Male pro Tag ausgeführt werden muss. Das Fazit: Der Versicherungsnehmer ist zu 100 Prozent nicht mehr in der Lage, seine Tätigkeit als Industriemechaniker auszuführen –und ist damit berufsunfähig im Sinne der Versicherungsbedingungen.
Jedoch: Steht dem Mann auch die Rente zu? Immerhin ging der Versicherte bereits wieder einer Arbeit nach, als er den BU-Antrag stellte – sogar in der gleichen Firma. Muss das Versicherungsunternehmen dennoch zahlen und bezieht dann der Mechaniker sowohl ein Gehalt als Lagerist als auch seine BU-Rente? Das Gericht beschied: Ja.
Denn die Tätigkeit eines Lageristen unterscheidet sich derart von der Tätigkeit eines Industriemechanikers, dass eine Verweisung ausscheidet. Das trifft auf mehreren Ebenen zu:
- Ein Lagerist wird nicht so gut bezahlt wie ein Industriemechaniker. Gemäß Tariflohn verliert der Versicherungsnehmer mit seiner neuen Tätigkeit 30 Prozent seines Gehalts.
- Das Anforderungsprofil eines Industriemechanikers ist anspruchsvoller als das einer Lageristen – Industriemechaniker wird man nur nach dreieinhalbjähriger Ausbildung, wohingegen die Arbeit eines Lageristen eine reine Anlerntätigkeit ist.
- Das unterschiedliche Niveau zeigt sich auch in unterschiedlichen Aufgaben – ein Industriemechaniker führt Tätigkeiten durch wie die Korrektur von Einstelldaten bei Maßabweichung, die Dokumentation der Qualität gefertigter Teile etc. Die Aufgabe eines Lageristen hingegen besteht allein in der Erfassung und Lagerung von Waren.
- Als erfahrener Facharbeiter arbeitet ein Industriemechaniker selbstständig. Der Lagerist hingegen entspricht eher dem Rang eines Hilfsarbeiters – und muss sich oft anleiten lassen.
- Hinzu kommt, dass es für den Lageristen kaum Beförderungsmöglichkeiten gibt. Anders verhält es sich mit dem Industriemechaniker: Er kann zum Vorarbeiter aufsteigen – mit diesem Aufstieg geht es auch drei Lohngruppen hinauf.
Dem Versicherungsnehmer kommt demnach eine wichtige Eigenschaft der BU-Versicherung zugute – die Orientierung am bisher ausgeübten Beruf. Das Wegfallen der abstrakten Verweisung sichert, dass mittlerweile wirklich nur noch auf gleichwertige Tätigkeiten verwiesen werden kann, die auch tatsächlich ausgeübt werden müssen.
Weil das Versicherungsunternehmen den Kläger also nicht auf die Tätigkeit des Industriemechanikers verweisen darf, muss sie weiter die BU-Rente zahlen – und zwar bis zum Auslaufen der Police in 2028. Eine Rente in Höhe von 1.429,42 Euro erhält der Mann also monatlich, zudem wird seine BU-Versicherung beitragsfrei gestellt. Auf den Seiten des Informationsdienstleisters IWW ist das Urteil des Landgerichts verfügbar.