Trotz nachteiliger Ausgangslage hat Deutschland die Pandemie „verhältnismäßig gut gemeistert“, so das zentrale Fazit einer Studie. Zu verdanken sei das vor allem dem medizinischen Fachpersonal. Wo die Forscher dringenden Handlungsbedarf sehen.
Deutschland hat die zweitälteste Bevölkerung Europas. Das allein erhöht bereits die Corona-Gefährdungslage. Hinzu kommt: Vorerkrankungen wie Krebs, Diabetes oder Adipositas erhöhen das Risiko schwerer Krankheitsverläufe nach einer Covid-19-Infektion erheblich. Von diesen Vorerkrankungen seien in Deutschland etwa 52 Prozent der Bevölkerung ab 15 Jahren betroffen, so Dr. Frank Wild vom Wissenschaftlichen Institut der Privaten Krankenversicherung (WIP).
Gemessen an diesen Grundvoraussetzungen ist Deutschland vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen, schätzt Wild ein. Er und sein Kollege Lewe Bahnsen haben den Verlauf der Pandemie in 15 europäischen Staaten miteinander verglichen. Ihrer Studie zufolge, verzeichnete Deutschland die drittniedrigsten Infektionszahlen und die fünftniedrigsten Todesfälle.
Die vergleichsweise niedrige Fallsterblichkeit und moderate Übersterblichkeit lesen die Studienautoren als Hinweis auf eine gute Versorgung der Covid-19-Patienten. Die Auswertungen des WIP zeigen auch, dass Länder mit einem hohen Anteil ambulant versorgter Patienten deutlich weniger Todesfälle zu verzeichnen hatten. Das war in Dänemark, den Niederlanden und auch Deutschland so.
Einen weiteren Standort-Vorteil für Deutschland identifizierten die WIP-Forscher bei den zur Verfügung stehenden Intensivbetten. Während deren Anzahl in Deutschland in der Regel ausgereicht habe, um Covid-Patienten zu versorgen, hätten andere Länder zusätzliche Kapazitäten schaffen müssen.
Doch ein Bett allein heilt niemanden. Es braucht auch geschultes und belastbares Personal. Und diesbezüglich kann sich Deutschland nicht über einen Spitzenplatz in Europa freuen. Bereits 2018 zeigten Erhebungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, dass eine Pflegekraft in Deutschland durchschnittlich 13 Patienten in einer Klinik zu betreuen hat. Deutlich mehr als in Schweden (7,7), den Niederlanden (6,9) oder den USA (5,3).
Auch in der WIP-Studie wird dieses Problem angesprochen: „Auf eine vollzeitbeschäftigte Pflegekraft kommen im Jahr etwa 60 Fälle, auf einen vollzeitbeschäftigten Krankenhausarzt gut 124 Fälle. Beides liegt deutlich höher als in den anderen betrachteten Ländern, für welche diese Daten verfügbar sind“, heißt es in der WIP-Untersuchung.
Ein weiteres auffälliges Ergebnis: Länder mit einer hohen Hospitalisierungsquote zeigen überdurchschnittlich viele Todesfälle. Das sei beispielsweise in Großbritannien, Italien und Spanien festzustellen, so die Studie. In Ländern mit stärkerer ambulanter Versorgung (z.B. Deutschland) seien hingegen unterdurchschnittlich viele Todesfälle zu verzeichnen.
Eine weitere deutsche Besonderheit betrifft den Pandemie-Verlauf in Pflegeeinrichtungen. In Belgien, den Niederlanden oder Irland entfielen zu Beginn des Jahres 2021 mehr als die Hälfte der Todesfälle auf Pflegeheimbewohner. Das ist in Deutschland anders. 28 Prozent der Covid-19-Todesfälle entfallen auf Pflegeeinrichtungen - der niedrigste Wert im Ländervergleich.
Gibt es also gar nichts zu verbessern im deutschen Gesundheitssystem? Dem würden die Studienautoren wohl doch nicht zustimmen. Insbesondere die Datengrundlage müsse verbessert werden, so die Forscher. Beispielsweise sei das kontinuierliche Datenmonitoring („Montags-, Wochenend- und Feiertagseffekte“) mangelhaft und die Verwendung von Datenreihen (7-Tage-Inzidenz) führe zu verzögerten Reaktionen auf das Infektionsgeschehen. Zu Infektionsorten und betroffenen Personengruppen bräuchte es zudem verbesserte Datenerfassung. Abschließend fordern die Forscher, dass die Digitalisierung unter Berücksichtigung der Wahrung der Privatsphäre weiter vorangebracht wird, um die Möglichkeiten der Pandemieeindämmung und –bewältigung zu erweitern.