Ein Rückblick auf das Jahr 2020, das den Beginn der Pandemie repräsentiert, und dessen kritischer Verlauf mit Lockdown und Börsencrash erklärt die strategischen Verhaltensweisen der Rückversicherer zur Prolongation 2020/21 sowie 2021/22 und erlaubt einen vorsichtigen Ausblick auf das unverändert durch Unsicherheit geprägte Jahr 2022. Ein Gastkommentar von Alwin W. Gerlach, früher selbst unter anderem als Prokurist eines großen Rückversicherers tätig.
Mit dem Übergang in das Jahr 2022 befindet sich die Finanzszene im dritten Jahr der laufenden Corona-Pandemie. Ein Ereignis, das erhebliche Verwerfungen unserer Gesellschaft aufdeckte und eine wirksame Eindämmung verhinderte. Die Gründe sind vielfältiger Natur. Die Exekutive zeigte sich im Jahr 2020 oft unverstanden und wirkte planlos, die Wirtschaft vertrat ureigene Interessen und die Bürger verhielten sich zu einem wesentlichen Teil unsolidarisch in der Bekämpfung der Pandemie. Anstatt Erkenntnissen aus vergangenen Epidemien und Pandemien (Pocken 400 Millionen Tote, Masern 100 Millionen Tote) und Empfehlungen von Wissenschaft und Forschung zu folgen, bevorzugte es ein Drittel der Bevölkerung, eine wirksame Impfung im Jahr 2021 mit der Begründung abzulehnen, frei und eigenverantwortlich entscheiden zu können. Insgesamt eine Fülle von Egoismen und die Verdrängung der Chance, würdevoll eine eigenverantwortliche Bedeutungslosigkeit zu akzeptieren. Als Folge können wir heute eine gespaltene Gesellschaft mit unterschiedlichen, teilweise unangenehmen Verhaltensweisen feststellen. Die verursachte Verschleppung bot dem ursprünglichen Virus Zeit und Raum, Mutanten wie Delta und aktuell Omikron zu bilden. Das Leid aus der Delta-Variante zeigte sich mit über 5 Millionen Infizierten und mehr als 100.000 Toten.
Unvermittelte Belastungsprobe für Versicherer und Finanzszene
Personen- und Sachschäden waren unter diesen Umständen unvermeidbar, die Finanzszene wurde unvermittelt vor eine Belastungsprobe gestellt. Erstversicherern wurden in 2020 unverzüglich Ansprüche auf Ersatz eingetretener Schäden gemeldet, die up-front nach Deckungsprüfung beglichen und -kumuliert von Rückversicherern im Rahmen geschlossener Rückversicherungsverträge- einvernehmlich übernommen wurden. Die Schäden und Rückstellungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurden unter Betriebsunterbrechungsversicherungen, für Ausfalldeckungen von Großveranstaltungen sowie Kranken- und Lebensversicherungen gemeldet: Letztere waren durch eine höhere Mortalitätsrate in den USA und Großbritannien gezeichnet.
Portfolien der Rückversicherer bilden sich durch unterschiedliche Strategien und der jeweiligen Underwritingpolitik, die bei Großereignissen unterschiedliche Belastungen für die einzelnen Risikoträger bringen. Danach zeigten per 2020 die Bilanzen der Swiss Re ein negatives Ergebnis von 691 Millionen US-Dollar, die der Munich Re ein positives in Höhe von 1.211 Millionen Euro und die der Hannover Rück einen Nettokonzernüberschuss von 833 Millionen Euro. Das Geschäftsmodell Rückversicherung hat damit seine Wirksamkeit zur Leistungserfüllung, Leistungsstärke und Kapitalkraft unter Beweis gestellt. Um diese Kategorien erhalten zu können, muß neben ausgewogenen Strategien das eingesetzte Investment von Shareholdern durch Dividenden bedient werden. Folgerichtig wurden Ausschüttungen der Swiss Re von CHF 5,10, der Munich Re von € 9,80 und Hannover Rück von € 4,50 vorgenommen, die nachvollziehbar unter dem Niveau des Vorjahres lagen.
Bemerkenswert erscheint bei Erwähnung der Schadenlasten die ursprünglich getroffene Annahme, daß Pandemien nicht zur Gruppe versicherter Gefahren gehören. Deckungsschutz bzw. Versicherungsschutz sei ausschließlich durch eine eindeutig und verbindliche Vertragsvereinbarung gegeben. Dennoch wurden Ansprüche unter Versicherungspolicen befriedigt, deren Trigger keine Leistungspflicht vorsah. Gerichtsentscheidungen hebelten den ursprünglich von den Vertragsparteien verabredeten Versicherungsschutz aus, Kulanz-Entschädigungen und schnelle Regulierung ergänzten das gesamte Regulierungsgeschehen. Erst- und Rückversicherer hatten demnach Leistungen erbracht, ohne für die realisierten Risiken eine angemessene Prämie erhalten zu haben. In ähnlicher Weise ist die Befriedung gestellter Schadenmeldungen aus den Überschwemmungen 2021 in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen vollzogen worden. Diese Erfahrung lehrt, Vertragstexte klar und interpretationsfrei zu gestalten - und wie verletzlich unsere Gesellschaft ist, wenn die Natur erbarmungslos zurückschlägt.
Potentielle Pool-Lösungen für extreme Schaden-Szenarien
Bis anhin waren die Elementarschäden hinlänglich kalkulierbar. Gemessen am eingegangenen Exposure stellen Rückversicherer regelmäßig zum Ausgleich von Großschadenbelastungen ein angemessenes Potential an Reserven vorsorglich zurück. Doch die Pandemie 2020/21 und die erheblichen Elementarschäden 2021 heben sich -von sonst eher stetig, aber geduldig erwartbaren- Sturmereignissen, Waldbränden, Vulkanausbrüchen, Erdbeben und sämtlichen Folgen der Klimaveränderung in eklatanter Weise ab. Danach sind recht zügig Diskussionen über eine Versicherungspflicht für Elementarschäden aufgekommen. Eine Entscheidung steht noch aus, denn die geforderte Kapazität zu realisieren, dürfte ausschließlich über einen Pool mit staatlicher Beteiligung gelingen.
Eine gemeinschaftliche Risikoverteilung über einen Pool ist zuletzt mit der Gründung von Extremus 2002 unter Beteiligung des Staates zur Tragung von Terrorrisiken gelungen. Ähnliche Gründungen sind bekanntlich der Pharmapool, die Deutsche Kernreaktor-Versicherungsgemeinschaft (DKVG) zur Absicherung von Nuklearrisiken sowie -bis zu seiner Einstellung- auch der DLP (Deutscher Luftpool) für Risiken der Raum- und Luftfahrt. Extremus, Pharmapool und DKVG stellen aus unterschiedlichen Gründen unverzichtbare Elemente der Versicherbarkeit von Risiken durch Terrorismus, Arzeimittel und Atomkraft dar. Rückversicherer sind in diesen Bereichen involviert und mehr denn je an traditionellen und neuen unbekannten Risiken beteiligt.
2022: neue Dramatik durch Omikron
Das Ausgangsthema, die Coronapandemie, hat Ende 2021 unerwartet durch die Mutante Omikron eine neue Dramatik erhalten. Zu wünschen wäre, diese hielte sich in Grenzen, um einen erneuten Lockdown, erstmalig am 22. März 2020 verordnet und ein Börsencrash im gleichen Monat des Jahres, vermeiden zu können. Die Dramaturgie ist kaum erfassbar und umso bedauerlicher, weil die vierte Welle, wenn zwar nicht ganz, aber dennoch weitgehend hätte kontrolliert werden können. Danach bleiben die Unsicherheiten aus dem weiteren Verlauf aus der Verbreitung von Omikron. Die Personenversicherung wird erneut in 2022 getroffen werden, was den Aufruf berechtigt, aus ethischen Gründen alles zu unternehmen, um Leid und Belastungen zu minimieren. Es muß endlich alles umgesetzt werden, um das systemische Debakel zu eliminieren, dessen Ursache in sämtlichen Teilen der Gesellschaft liegt. Davon ist die Versicherungsbranche nicht ausgenommen, die als systemrelvanter Bereich zudem noch für materielle Verluste als Garant angesehen wird.
Um Leistungsausfälle oder drohende Ausfälle erst nicht aufkommen zu lassen, verbleibt es bei der Bedingung, für die zur Verfügung gestellte Kapazität angemessenes Risikoentgelt vergütet zu bekommen. Dieser Leitsatz prägte die Prolongation 2021 und 2022. Die Wahrung von Kontinuität in der Geschäftsbeziehung zu Erstversicherern steht grundsätzlich nicht zur Disposition. Ausgewogene Bedingungen und Konditionen geben den Raum für Verhandlungen zu den am meisten diskutierten Punkten Qualität der Originalprämie, Rückversicherungspreis und Kostenerstattung.
Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Branche diese Strategien bereits für das Jahr 2021 -in Anlehnung und unter Berücksichtigung hoher Unsicherheiten- solide auf Wachstum und Wertschöpfung für Leistungen gegenüber den Kunden und Stakeholdern ausgerichtet hatten. Das bestätigen die Daten zum Beispiel der Swiss Re im 3. Quartal, in dem ein Gewinn von 1,26 Milliarden US-Dollar bei einem um knapp sechs Prozent gestiegenen Beitragsvolumen von 32 Milliarden US-Dollar angegeben wird. Der Nettokonzerngewinn der Hannover Rück steigt im 3. Quartal 2021 auf 856 Millionen Euro, bei einem Zuwachs der Nettoprämie um zwölf Prozent auf 17,6 Milliarden Euro. Munich Re erzielt einen Gewinn von rund 2,1 Milliarden Euro per 3. Quartal 2021. Geschätzt belaufen sich gegen Ende 2021 die Covid-19-Schäden dieser drei Rückversicherer auf gesamt rund 7 Milliarden Euro aus den Geschäftsjahren 2020 und 2021.
Hoffnung auf verbessertes Ergebnis
Für das Jahr 2022 wird überwiegend ein Ergebnis in der Nähe des guten Geschäftsjahres 2019 gerechnet. Der Optimismus ergibt sich aus den Beitragsanhebungen bei Erstversicherern im Originalgeschäft und Anpassung der Rückversicherungspreise per 2022. Gerade im Erstversicherungsbereich Industriegeschäft konnten Erfolge erzielt werden, an denen Rückversicherer über die Kapazitätsvergabe mit angepassten Prämien partizipieren. Im Vorfeld der Verlängerung 2022 meldeten sich leider Maklerstimmen, die in dieser Krisensituation mitteilten, es werde keinen harten Markt geben. In diesem Zusammenhang darf die Solidarität von Marktteilnehmern, die kein Risiko tragen, infrage gestellt werden. Hinzu sollte einmal fachlich geklärt werden, was ein harter Markt bedeutet und was ein weicher Markt bedeutet. Nichts anderes als technisches Underwriting oder untechnisches Underwriting, es sei denn, es liegt ein globaler Verdrängungswettbewerb oder Kapazitätsentzug vor.
Die Branche hat ohnehin noch einige Themen auf der Agenda, bedenkt man die Fortschritte und die Umsetzung der Digitalisierung, die noch mit immensen Kosten verbunden sein wird. Daneben und/oder im engen Mittelpunkt steht die Anstrengung zum Erreichen der Klimaziele, um den Klimawandel und die damit verbundenen Naturkatastrophen zu bremsen. Insbesondere sind die Investments hinsichtlich der CO2-Reduktion zu beachten. Auch das harte Niedrigzinsumfeld zu bewältigen, gilt unverändert als große Herausforderung. Zur Verbesserung der Kapitalsituation bemühen sich Erstversicherer unlängst um Financial Solution. Kapazitäten im Naturkatastrophenbereich werden in einem Umfang nachgefragt, der ohne alternativem Kapital kaum zu befriedigen, aber auch nicht auf Dauer garantiert ist. In einzelnen Sparten wie D&O besteht unverändert Sanierungsbedarf, Cyberrisiken geraten in den Bereich harter Kritik. Im Kraftfahrtbereich sind Verwerfungen abzusehen, sobald sich Bestände für E-Mobilität, einschließlich künstlicher Intelligenz (autonomes Fahren) vom gegenwärtigen Portfolio absetzen. Die Beiträge sollen in 2022 nur um etwa ein Prozent steigen, weil die Normalisierung der Laufleistung und höherer Risikoprämien nicht erkennbar sind. Den allgemeinen Sachbereich dürfen wir in 2022 zuversichtlich betrachten. Die Unternehmen haben ihre Zeichnungsdisziplin behalten, Prämienwachstum überwiegend im gewerblichen Bereich erreicht und wollen 2022 ein positives Ergebnis in diesem Bereich ausweisen.
Ausblick: Die Versicherungsbranche 2022
Zusammengefasst scheint in weiten Teilen des Basisgeschäftes ein leichtes Beitragswachstum und eine auskömmliche Schadenquote die Geschäftsentwicklung zu prägen. Die Beiträge der Rückversicherer werden die Erstversicherer im traditionellen Bereich in Höhe abgeforderter Kapazitäten und Rückversicherungsprogramme unterstützen - und an den Ergebnissen partizipieren.
Beachtenswert ist die Zunahme des Wettbewerbes im Rückversicherungsbereich. Es ist noch nicht abzusehen, ob ausschließlich ein verträglicher Portfolio-Wettbewerb oder ein Verdrängungs- bzw. Übernahmewettbewerb in Bewegung gerät. Die Aussichten, den Shareholder Return zu halten bzw. zu steigern, sind für 2022 zunächst als gut zu bezeichnen. Diese Aussage kann für die bisher drei benannten Rückversicherer grundsätzlich zutreffen, zumal sich unterdessen eine fast im Gleichschritt befindliche Strategie durchgesetzt hat. Als Prioritäten für 2022 gelten unverändert eine starke Kapitalkraft und das Wirken um Vertrauen der Kapitalmärkte. Alle Marktteilnehmer wünschen sich gesundes Wachstum, besser organisch als durch Zukäufe. Kostensenkungen sollen durch die digitale Transformation und Verschlankung komplexer Prozesse (automatisierte Schadenbearbeitung) erreicht werden. Personalstrukturen stehen in der Bewertung, Führungsthemen stehen oben an, die eine völlige Neuorientierung erfahren. Führung muß sich den Herausforderungen konsequent stellen und diese unter ethischen Gesichtspunkten nach unternehmerischen Grundsätzen konsequent umsetzen. Dazu gehört auch flexibles Arbeiten von fast jedem Ort außerhalb der Zentrale, nachdem nachgewiesen ist, dass effizientes Arbeiten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern neuerer Generation als Selbstverständlichkeit angesehen wird.
Eine gefährdete, fast unliebsame Branche bleibt nach wie vor die Lebensversicherung: nicht nur wegen drohender Mortalität aus der Pandemie heraus. Altbestände, die Kapital binden, sowie Neubestände, die keine langfristige Garantien bieten, werden die Unternehmen veranlassen, nach Finanzinvestoren zu greifen. Die Kapitalbindung stört weiteren Wachstum, das Thema muss Erleichterung erfahren. Danach ist durchaus damit zu rechnen, dass aus vielfältigen Gründen Portfolio-Übertragungen oder partnerschaftlich arrangierter, externer Run-Off wieder an Fahrt gewinnt. Als Erkenntnis kann bemerkt werden, dass die Rückversicherer gut aufgestellt sind, ihre Strategien stets Chancen und überschaubaren Risiken anpassen und als kompetenter Begleiter der Erstversicherung Auszeichnung verdienen. Das Geschäftsmodell Rückversicherung ist ein bewegendes Modell, anpassungsfähig und risikobedacht. Anlass für ein neues Geschäftsmodell besteht mangels überbordender Transferkapazität nicht.