Die Eigenanteile, die Pflegebedürftige in Heimen zahlen müssen, explodieren seit Jahren. Zugleich steht die Politik vor der Herausforderung, mehr Pflegekräfte zu gewinnen und die Bedingungen in der Pflege zu verbessern. Wie dieser Spagat in einer alternden Gesellschaft gelingen kann, darüber sprach Versicherungsbote mit Oliver Blatt, Abteilungsleiter Gesundheit beim Verband der Ersatzkassen vdek.
Versicherungsbote: Wie groß ist aktuell das Finanzloch bei den Krankenkassen? Werden sich die Beitragszahler schon bald auf steigende Zusatzbeiträge einstellen müssen?
Oliver Blatt: Mit dem einmaligen Steuerzuschuss von 14 Milliarden Euro für 2022 sind die Finanzen der GKV derzeit gesichert. Für Anfang 2023 müssen sich dagegen Beitragszahler auf steigende Zusatzbeitragssätze einstellen. Nach unserer Schätzung steigen die Ausgaben der GKV in 2023 um 3,4 Prozent, das sind etwa 10 Milliarden Euro. Somit würde sich der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz von 1,3 Prozent in 2022 fast verdoppeln auf 2,4 Prozent in 2023.
Die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen in Heimen steigt seit Jahren rasant, spätestens aber seit Inkrafttreten der Pflegestärkungsgesetze – die Eigenanteile explodieren geradezu. Können Sie hierzu aktuelle Zahlen nennen?
Derzeit liegt die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen in der vollstationären Pflege bundesweit bei durchschnittlich 2.179 Euro zzgl. Ausbildungskosten. Davon entfallen 912 Euro auf die pflegebedingten Eigenanteile. Daneben sind durchschnittlich 466 Euro für Investitionskosten und 801 Euro für „Unterkunft und Verpflegung“ vom Pflegebedürftigen zu entrichten. Beim Ländervergleich dieser Kostenentwicklung ist festzustellen, dass sich die Kosten zwar langsam angleichen, aber insbesondere in den neuen Bundesländern sehr hohe Steigerungsraten zu verzeichnen sind. So betrug der durchschnittliche Eigenanteil für pflegebedingte Kosten in Thüringen 2018 noch 207 Euro und beträgt heute 690 Euro – ein Anstieg von 483 Euro. In Sachsen ist im gleichen Zeitraum sogar ein Anstieg um 552 Euro zu verzeichnen, während beispielsweise in NRW der Anstieg nur 242 Euro betrug. Hier besteht offenbar ein gewisser „Aufholbedarf“. Von einer Kostenexplosion würden wir aber insgesamt nicht sprechen.
Die frühere schwarz-rote Bundesregierung hat unter Jens Spahn (CDU) eine „kleine Pflegereform“ umgesetzt: seitdem werden unter anderem die „reinen“ Pflegekosten in den Heimen stufenweise bezuschusst. Wenn ich Statements von Ihrem Verband lese, reicht das nicht aus, um Betroffene dauerhaft finanziell zu entlasten. Wo bleiben die Kosten für Betroffene hoch bzw. wo lauern neue Kostenfallen für Heimbewohner?
Richtig – seit Anfang dieses Jahres übernehmen die Pflegekassen einen prozentualen Anteil an den Pflegeaufwendungen. Dieser Leistungszuschlag ist davon abhängig, wie lange Pflegebedürftige vollstationäre Pflegeleistungen bezogen haben – er reicht von fünf bis 70 Prozent. Hierdurch erfolgt insbesondere bei längerer Heimpflege eine deutliche Entlastung. Allerdings gilt der Zuschlag nicht für die Investitionskosten und „Unterkunft und Verpflegung“. Daher fordern wir seit längerem, dass die Länder endlich die Investitionskosten – wie gesetzlich auch gewollt - übernehmen und damit die Pflegebedürftigen deutlich entlasten. Wir reden hier immerhin über 466 Euro Monat für Monat. Da von weiteren Kostensteigerungen auszugehen ist, müssen wir genau beobachten, wie sich die Eigenanteile in den kommenden Jahren entwickeln.
Was sind aus Ihrer Sicht die aktuell wichtigen Kostentreiber für die Pflegekassen? Oft werden die Alterung der Gesellschaft und gesetzliche Reformen für bessere Bedingungen in der Pflege als Ursache für steigende Kosten genannt. Gibt es weitere Gründe?
Der demografische Wandel ist ein relevanter Kostentreiber für die steigende Ausgabenentwicklung in der sozialen Pflegeversicherung. Derzeit sind 4,5 Millionen Menschen pflegebedürftig, das sind 300.000 mehr als im Vorjahr. Der Effekt verstärkt sich, da seit 2017 durch einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff der Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung verbessert und der Leistungskatalog ausgebaut wird. Für die steigenden Pflegekosten sind zudem die steigenden Löhne und die Verbesserungen bei der Personalausstattung anzuführen. Beides ist natürlich richtig und gut, wird aber die Entlastung der Pflegebedürftigen in absehbarer Zeit wieder aufzehren.
…daran anknüpfend: Wo könnten aktuell in der Pflege Gelder eingespart werden?
Grundsätzlich erscheint es uns keine gute Lösung, bei den Leistungen für Pflegebedürftige nun den Rotstift anzusetzen – schließlich sind Pflegebedürftige auf die Geld- und Sachleistungen dringend angewiesen. Vielmehr muss darauf hingewirkt werden, dass das Risiko, einmal pflegebedürftig zu werden, abgesenkt wird – Stichwort Prävention und Rehabilitation. Auch sehen wir im Ausbau der Digitalisierung eine Chance, zukünftig Leistungen effizienter und niedrigschwelliger zu erbringen. Und last but not least hoffen wir doch alle, dass mit Ende der Corona-Pandemie auch dieser unglaubliche Kostentreiber ein Ende findet.
Pflegende Angehörige sind weiterhin das Rückgrat der pflegerischen Versorgung
Welche Rolle spielen versicherungsfremde Leistungen bei der Finanzsituation im Pflegebereich? Sind diese ausreichend durch Zuschüsse gegenfinanziert?
Ein wichtiges Bespiel für diese versicherungsfremden Leistungen sind die von den Pflegekassen zu zahlenden Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige. Rund drei Milliarden Euro müssen dafür Jahr für Jahr von der Pflegeversicherung aufgewendet werden. Daher fordern wir hierfür seit längerem einen entsprechend hohen Steuerzuschuss. Bisher beteiligt sich der Bund nur mit einer Milliarde Euro.
Die Politik steht vor einem schwierigen Spagat: Einerseits sollen mehr Pflegekräfte gewonnen werden und sich die Bedingungen in der Pflege deutlich verbessern, andererseits sollen die Beiträge für gesetzlich Pflegeversicherte gering gehalten werden. Wie kann dieser Spagat aus Ihrer Sicht gelingen? Braucht es hier vielleicht eine größere Reform statt ständig neuer Reparaturarbeiten am Status Quo?
Feinjustierungen sind in allen sozialen Sicherungssystemen regelmäßig erforderlich – so auch in der Pflegeversicherung. Insgesamt hat sich die Pflegeversicherung seit ihrer Einführung 1995 bewährt, sodass aus unserer Sicht kein „Neustart“ erforderlich ist. Es ist nicht zu bestreiten, dass der beschriebene Spagat zwischen notwendigen Mehrausgaben und Beitragssatzstabilität besteht. Die Politik ist hier gefordert, diesen Spagat mit Augenmaß zu meistern. Der entsprechende Hinweis im Koalitionsvertrag, dass eine moderate Anpassung des Beitragssatzes in der Pflegeversicherung geprüft werden soll, deutet ja darauf hin, dass die aktuelle Bundesregierung den Handlungsbedarf erkannt hat. Wichtig ist für die Zukunft jedenfalls, dass Leistungsanpassungen nachhaltig gegenfinanziert sind.
Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden zuhause von Angehörigen umsorgt. Müssen wir häufiger über Belastungen pflegender Angehöriger reden? Auch die häusliche Pflege bedeutet ein potentielles Armutsrisiko für pflegende Angehörige, sobald sie den Job aufgeben oder die Arbeitszeit reduzieren müssen. Auch ist die physische und psychische Belastung hoch. Ich habe den Eindruck, das Thema wird seltener öffentlich debattiert als die hohen Heimkosten.
Pflegende Angehörige sind weiterhin das Rückgrat der pflegerischen Versorgung. Es wäre sicher auch kein gutes Zeichen für eine Gesellschaft, wenn diese Fürsorge nicht zumindest auch teilweise in Familie und Nachbarschaft erfolgen würde. Die von Ihnen genannten Herausforderungen bestehen ohne Zweifel. Ich habe jedoch das Gefühl, dass das Thema zunehmend in der Gesellschaft und der Politik angekommen ist. Und letztlich verleihen zahlreiche Sozial- bzw. Betroffenenverbände pflegenden Angehörigen auch eine „politische Stimme“ und bringen die Interessen und Belange auch in die Pflege-Selbstverwaltung ein, beispielsweise in den Pflege-Qualitätsausschuss.
…daran anknüpfend: Wird aus Ihrer Sicht genug getan, um pflegende Angehörige zu unterstützen? Wo bieten sich hier Reformen an?
Der Gesetzgeber hat den hohen Stellenwert der Angehörigenpflege erkannt und auch die Pflegeversicherung entsprechend ausgestaltet. Letztlich zielen nicht nur Leistungen wie Kurzzeit- und Verhinderungspflege auf eine Entlastung ab, sondern auch Leistungen wie Beratungseinsätze, Pflegekurse, Netzwerkförderung, Entlastungsangebote und – nicht zuletzt – die bereits thematisierte Rentenabsicherung von pflegenden Angehörigen. Auch ohne weitere Reformen bestehen bereits heute zahlreiche Anknüpfungspunkte, um die Situation von pflegenden Angehörigen wirksam zu verbessern.
Ein Problem, mit dem ich selbst als Angehöriger konfrontiert war: Oft fehlt im ländlichen Raum die Pflege-Infrastruktur. Es gibt nicht genügend ambulante Pflegedienste. Und ein Rechtsanspruch auf Verhinderungspflege hilft nichts, wenn niemand die Vertretung übernehmen kann und alle Pflegeheime belegt sind. Gibt es Bestrebungen, die Pflege-Infrastruktur im ländlichen Raum zu stärken? Wie können die Krankenkassen hier einen Beitrag leisten?
Die Pflegekassen haben einen Kontrahierungszwang – das heißt, sie müssen alle Pflegeeinrichtungen zulassen, welche die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen. Hiervon kann keine Steuerungswirkung ausgehen. Die Länder sind stattdessen gefragt, auf eine ausreichende Pflege-Infrastruktur hinzuwirken. Als Steuerungsmittel dient den Ländern beispielsweise die Investitionskostenförderung.
Viele zukünftige Senioren haben keine Angehörigen, die sie pflegen könnten. Der Anteil voll-stationärer Unterbringungen wird wohl steigen: damit steigen auch die Kosten. Ist Deutschland darauf ausreichend vorbereitet?
Grundsätzlich haben wir den Eindruck, dass die Pflegebranche bzw. der Immobilienmarkt in Deutschland auf die steigende Nachfrage reagiert und entsprechende Angebote auch schafft. Bei der Beurteilung sollten wir den Blick nicht nur auf klassische Alten- bzw. Pflegeheime richten, sondern auf alle Angebote, die ein möglichst selbstständiges Leben mit Pflegebedarf ermöglichen. Die Pflegeversicherung bietet mit ihren ambulanten und stationären Leistungen eine Finanzierungsgrundlage für unterschiedlichste Wohnformen. Dazu zählen beispielsweise auch das Service-Wohnen oder Wohngemeinschaften. Unabhängig vom Immobiliensektor bleibt es aber die wesentliche Herausforderung, auch zukünftig ausreichend Hilfs- und Fachkräfte zu gewinnen, welche die Versorgung in den Wohnformen dann auch tatsächlich übernehmen.
Hinweis: Der Text erschien zuerst im kostenlosen Versicherungsbote Fachmagazin 01/2022.