Das Thema Rente und deren Finanzierung war und ist ein heißes Eisen. Während viele Rentenexperten wie etwa Ökonom Bernd Raffelhüschen oder der neue Wirtschaftsweise Martin Werding vor der Schieflage des Rentensystems warnen und dringenden Reformbedarf sehen, fürchten Politiker seit Jahren Neuerungen bei der Rentenversicherung wie der Teufel das Weihwasser. Soll die Rente im blümschen Sinne sicher bleiben, braucht es dringend schmerzhafte Wahrheiten und auch ein höheres Renteneintrittsalter. Eine Kolumne von Dr. Rainer Reitzler, CEO der Münchener Verein Versicherungsgruppe.
Eigentlich ist es doch eine einfache Rechnung: Das Rentensystem in Deutschland kann nur funktionieren, wenn es ausreichend viele Beitragszahler gibt. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser wünschenswerte Zustand jedoch immer weiter umgedreht. Immer weniger Beitragszahlende stehen immer mehr Rentnern gegenüber. 1957 haben sechs Beitragszahlende einen Rentner gestemmt. Derzeit sind es gerade mal 1,8 Erwerbstätige, die einen Rentner finanzieren. Bis 2050 wird sich das Verhältnis auf nur noch 1,3 minimieren.
Um das Problem auch für künftige Generationen in den Griff zu bekommen, gibt es vier Möglichkeiten: Anstieg der Beiträge, geringere Rentenerhöhungen, höherer Zuschuss aus Steuermitteln sowie die Heraufsetzung des Rentenalters.
Bereits heute fließen fast 110 Milliarden Euro aus Steuermitteln jährlich in die Rentenkasse. Das ist knapp ein Viertel des Bundeshaushalts. Bei einem unveränderten Rentensystem wären es 2040 mit dann zusätzlich 180 Milliarden Euro pro Jahr 60 Prozent des gesamten Bundeshaushalts, die alleine in die Rentenversicherung flössen. Wer soll das bezahlen? Das ist absurd.
Die beste und ehrlichste Lösung scheint mir die Heraufsetzung des Rentenalters zu sein. Erst kürzlich hat Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, die Rente mit 70 gefordert. Ein Aufschrei der Entrüstung war in bestimmten politischen Kreisen die Folge. Warum? Die Wahrheit tut weh: Ohne ein höheres Renteneintrittsalter werden wir unseren Wohlstand und das Rentenniveau nicht halten können. Ändert sich nichts, wird auch die Altersarmut steigen.
Dem Statistischen Bundesamt zufolge war nur jeder Zehnte Bürger in Deutschland Ende 2021 zwischen 15 und 24 Jahre alt, das entspricht rund 8,3 Millionen Menschen. Demgegenüber stehen jedoch mehr als 18 Millionen Menschen, die älter als 65 Jahre sind. In den kommenden 15 Jahren werden mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge fast 13 Millionen Menschen dem Arbeitsmarkt verloren gehen. Das wird das derzeitige Rentensystem nicht aushalten können. Der Kollaps ist vorprogrammiert.
Nach aktueller Rechtslage wird die Altersgrenze für die Rente ohne Abschläge bis 2031 schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat eine weitere Anhebung abgelehnt. Diese Haltung wird sich bitter rächen, falls nicht nachgebessert wird.
Bei dieser Diskussion kommt auch immer wieder das magische Wort Österreich ins Spiel. Das dortige Rentensystem sei deutlich besser und solle auf Deutschland übertragen werden. Was viele nicht wissen: In Österreich fließt die Rente erst nach 15 Jahren Beitragseinzahlung, nicht schon nach fünf Jahren Mindestversicherungszeit wie in Deutschland. Zudem ist der Beitragssatz mit 22,8 % in unserem Nachbarland deutlich höher als bei uns mit 18,6 %. Wer in Österreich zudem früher in Rente gehen will, muss einen höheren jährlichen Abschlag als in Deutschland hinnehmen. Darüber hinaus werden die Renten in Österreich bereits heute in vollem Umfang besteuert, in Deutschland erst stufenweise bis 2040.
Immer dann, wenn man nicht weiterweiß, hilft ein Blick ins Ausland. Dort wird auch weniger gejammert. Der OECD zufolge werden alle Mitgliedsländer künftig ihre Rentenaltersgrenzen erhöhen. Drei Beispiele: In Estland und Italien wird das Rentenalter in Zukunft bei 71 Jahren liegen. Italien wird demnach seine Altersgrenze um neun Jahre anheben. Dänemark erhöht die Grenze laut dem OECD um 8,5 Jahre und lässt langfristig eine abschlagsfreie Rente erst ab 74 Jahren zu. Das gesetzliche, jedoch nur theoretische Eintrittsalter lag 2021 in Deutschland, so der Rentenbericht der OECD, bei 65,7 Jahre. Damit liegen wir im Vergleich zu den anderen OECD-Staaten im vorderen Viertel. Im Durchschnitt gehen derzeit deutsche Arbeitnehmende indes mit 63,1 Jahren früher in Rente als gesetzlich vorgegeben.
Die höhere Lebenserwartung lässt eine längere Lebensarbeitszeit in einer immer älter werdenden Gesellschaft als sinnvoll erscheinen. Studien zeigen auf, dass die Leistungsfähigkeit und Produktivität älterer Erwerbstätiger nicht schlechter ist als die von jüngeren Menschen. Als Handwerksversicherer wissen wir, dass eine Rente mit 70 zweifellos nicht in jedem Beruf möglich ist. Hierfür bieten die Versicherer jedoch leistungsstarke Vorsorgemöglichkeiten, z. B. eine Berufsunfähigkeitsversicherung.
Soll der berühmte Satz des einstigen Bundesarbeitsministers Norbert Blüm „Die Rente ist sicher“ vor 25 Jahren auch in Zukunft noch Bestand haben, dann führt an der Rente mit 70 kein Weg vorbei. Trotz diverser Proteste und der sicherlich komplexen Diskussion gilt für mich der Leitsatz: Ehrlich währt am längsten! Dieses Plädoyer soll dazu einen weiteren, zumindest kleinen Beitrag zur Vertiefung der Problematik leisten.