Den gesetzlich Krankenversicherten droht ein „Beitrags-Tsunami“, wenn nicht mit einer großen Gesundheitsreform gegengesteuert wird. Diese These vertritt Stephan Pilsinger, fachpolitischer Sprecher für Gesundheitspolitik der CSU-Landesgruppe im Bundestag, in einem Gastkommentar für die Tageszeitung „Welt“. Er sieht vor allem bei den Krankenhäusern Handlungsbedarf.
Die Preise für Energie und Lebensmittel explodieren - doch das sind nicht die einzigen Teuerungen, auf die sich die Bürgerinnen und Bürger einstellen müssen. Erneut mahnt nun ein Gesundheitsexperte, dass sich die 74 Millionen gesetzlich Krankenversicherten auf extrem steigende Beiträge einstellen müssen - zumindest dann, wenn nicht gegengesteuert wird.
Diesmal ist es Stephan Pilsinger, der in einem Gastbeitrag für die Tageszeitung „Welt“ vor den Konsequenzen ausbleibender Reformen warnt. Der gesundheitspolitische Sprecher der CSU-Fraktion im Bundestag ist selbst praktizierender Hausarzt. Und findet drastische Worte: Die Kassenmitglieder müssten sich auf einen „Beitrags-Tsunami“ einstellen. Um bis zu 2,5 Prozentpunkte könnte demnach der Zusatzbeitrag steigen. Zuvor hatten unter anderem bereits Vorständinnen und Vorstände der Krankenkassen selbst vor Kostenexplosionen gewarnt - etwa Irmgard Stippler, Vorstandschefin der AOK Bayern.
Finanzloch größer als erwartet
Nach Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums sei im gesetzlichen Kassensystem 2023 mit einem Finanzloch von 17 Milliarden Euro zu rechnen. Pilsinger verweist aber auf Prognosen von Wirtschaftsforschungsinstituten, wonach diese Summe zu gering angesetzt sei. Demnach sei mit einem Fehlbetrag von bis zu 25 Milliarden Euro zu rechnen. Grund hierfür ist unter anderem die schwächelnde Konjunktur: Wenn sie sich negativ auf dem Arbeitsmarkt auswirkt, nehmen auch die Krankenkassen weniger Beitrag ein. Zudem verteuern sich durch die Inflation die Gesundheitsleistungen.
Das GKV-Stabilisierungsgesetz hält der CSU-Experte als Antwort auf die drohende Kostenexplosion für ungenügend. Dies entpuppe sich „als ein Spargesetz, das mit einem Sammelsurium von unkoordinierten Einzelmaßnahmen einzig zum Ziel hat, das Defizit für 2023 vorübergehend auszugleichen“. Es fehle an mutigen und langfristigen Reformschritten, kritisiert Pilsinger. Auch widerspricht er Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach darin, dass keine Leistungen gekürzt werden. Unter anderem werde die Neupatientenpauschale gestrichen - was für die Betroffenen längere Wartezeiten für Facharzt-Termine bedeuten könne. Auch bei der zahnärztlichen Vorsorge werde das Budget gekürzt.
Zusatzbeitrag: Anstieg um 2,5 Prozentpunkte bis 2025?
Dass sich der Krankenkassen-Beitrag zum kommenden Jahr verteuern wird, hat die Bundesregierung bereits angekündigt: um 0,3 Prozentpunkte soll der Zusatzbeitrag steigen, wobei die Hälfte davon der Arbeitgeber trägt. Doch selbst das hält Pilsinger für unrealistisch. Demnach sei sogar mit einem Plus von 0,5 Prozentpunkten zu rechnen. Und ohne weitere Reformen müsste der Zusatzbeitrag um nochmals einen Prozenpunkt pro Jahr angehoben werden, um das Finanzloch auszugleichen. „Jedes Jahr wird die Belastungswelle höher, wenn nicht bald nachhaltige Reformen durchgeführt werden“, warnt der Mediziner.
Hier sei es keine Lösung -wie vereinzelt gefordert- die Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung anzuheben, sodass Gutverdiener mehr Beitrag zahlen. Der Krankenkassen-Beitrag in Höhe dieses Einkommens würde von 933 Euro monatlich auf 1.361 Euro steigen: das belaste vor allem die Mittelschicht. Auch Beamte will Pilsinger nicht vermehrt ins Kassensystem lotsen - diese Forderung wendet er mit dem Argument ab, es entstehe eine „Einheitsversicherung“ bzw. „Zwangsbürgerversicherung“. Selbst wirtschaftsliberale Experten wie Bernd Raffelhüschen hatten zuletzt gefordert, gegen die explodierenden Kosten durch Beihilfe-Zahlungen vorzugehen: Mehr als die Hälfte aller privat Krankenvollversicherten hat einen entsprechenden Beihilfe-Anspruch.
Geforderte Reformschritte
Stattdessen fordert der CSU-Experte, die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel von 19 Prozent auf sieben Prozent zu senken. Es sei unverständlich, warum sogar Bücher oder Tampons mit dem geringeren Prozentsatz besteuert werden, nicht aber „lebensnotwendige Medikamente“. Das sei logisch nicht erklärbar und schlicht unpassend.
Zudem müsse der Bund seiner Pflicht nachkommen, „seinen vollen Anteil an den Kosten der Krankenversicherung für Bezieher des Arbeitslosengelds II zu entrichten“. Allein durch diese beiden Maßnahmen könnte die GKV 16 Milliarden Euro einsparen, schreibt Pilsinger mit Bezug auf Berechnungen des GKV-Spitzenverbandes. Neu sind diese Forderungen nicht: wiederholt hatten auch Funktionäre der Krankenkassen diese Reformschritte angemahnt. 2017 hatte ein Gutachten im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums für Aufsehen gesorgt, wonach der Staat 9,6 Milliarden Euro zu wenig überweise, um HartzIV-Empfänger gesundheitlich abzusichern: Lasten, die einseitig den versicherten Beitragszahlern aufgebürdet werden.
Darüber hinaus mahnt Pilsinger eine umfassende Krankenhaus-Reform an, ohne hier Details zu nennen, wie diese aussehen könnte. "Ziel muss es sein, auf der einen Seite eine wohnortnahe Notfall- und Grundversorgung sicherzustellen, auf der anderen Seite aber Spezialisierungen und weitergehende Eingriffe in dafür bestens ausgestatteten Zentren zu konzentrieren", schreibt er. Die Kliniken seien mit 37 Prozent der Ausgaben der größte Kostentreiber im Gesundheitssystem.
Eine solche Krankenhaus-Reform hatte im Frühjahr auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angekündigt: aber im GKV-Stabilisierungsgesetz finden sich keine konkreten Reformschritte. Stattdessen setzte das Gesundheitsministerium eine Expertenkommission ein, die Reformen für eine neue Struktur der Kliniklandschaft erarbeiten soll.