Die Zahl der Mitglieder bei den gesetzlichen Krankenkassen ist so stark gestiegen wie seit 20 Jahren nicht. Ein Grund: Flüchtlinge aus der Ukraine genießen Krankenversicherungs-Schutz. Das belastet auch die Finanzen der Versicherer zusätzlich. Der Hauptgrund für die aktuellen Teuerungen im Gesundheitssystem sind die Flüchtlingszahlen allerdings nicht: Ihr jetziger Anteil an den Mehrkosten wird auf eine Milliarde Euro geschätzt.
Die Krankenkassen verzeichnen einen Mitglieder-Rekord. Bis Anfang September stieg die Mitgliederzahl um 700.000 Personen an, sodass nun rund 73,8 Millionen Personen bei den gesetzlichen Anbietern versichert sind, so berichtet aktuell der „Tagesspiegel“ und beruft sich auf Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums. Es ist der größte Zuwachs seit 20 Jahren.
Geschätzte Mehrkosten von einer Milliarde Euro
“Ein großer Teil davon sind Flüchtlinge aus der Ukraine, die am 1. Juni ins Hartz-IV-System überführt worden und nun gesetzlich krankenversichert sind“, zitiert das Handelsblatt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK Gesundheit. Dies sei ein wichtiger Solidarbeitrag der Krankenkassen. "Allerdings rechnen wir mit Mehrkosten von rund einer Milliarde Euro für das Gesamtsystem“.
Wie groß der Anteil der Ukraine-Geflüchteten an den neuen Kassen-Mitgliedern ist, kann das Ministerium nicht benennen. Bis zum Stichtag 09. September kamen 1.008.635 Geflüchtete nach Deutschland, wie aus dem Ausländerzentralregister (AZR) des Bundesinnenministeriums hervorgeht.
Die geschätzten Mehrkosten von einer Milliarde Euro zeigen zugleich: die Flüchtlingszahlen infolge des Ukraine-Krieges sind nicht der Hauptgrund für die aktuellen Teuerungen im Krankenkassen-System. Dies hatten auf Social-Media-Kanälen wie Twitter unter anderem der AfD nahestehende Profile behauptet.
Das Bundesgesundheitsministerium rechnet im kommenden Jahr mit einem Fehlbetrag von 17 Milliarden Euro bei den gesetzlichen Krankenversicherern, Wirtschaftsforschungsinstitute gar mit bis zu 23 Milliarden: abhängig davon, ob und in welchem Umfang eine Rezession droht. Faktoren wie die Alterung der Gesellschaft, steigende Medikamenten-Preise, teure Gesundheitsreformen sowie die Inflation wirken sich hier aus.
Konkret haben die Geflüchteten einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II, der auch den Schutz durch die Krankenkassen einschließt. Wiederholt hatten Vorstände der Krankenkassen bemängelt, dass der Bund den Versicherern zu wenig Geld überweist, um diese Kosten voll zu decken. Gezahlt wird für Hartz-IV-Empfänger nur eine Pauschale, die aber laut Bundesgesundheitsministerium 250 Euro unter den tatsächlichen Behandlungskosten pro Person und Monat liegt. Obwohl es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, Betroffene abzusichern, müssten diese Mehrkosten einseitig die Beitragszahler der gesetzlichen Krankenkassen schultern.
GKV-Stabilisierungsgesetz wirkt nur kurzfristig
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat auf die angespannte Finanzsituation der Krankenkassen reagiert und ein GKV-Stabilisierungsgesetz auf den Weg gebracht. Am Freitag wird es erstmals im Bundestag beraten. Geplant sind jedoch lediglich kurzzeitig wirkende Maßnahmen, um die Kosten im Kassensystem zu stabilisieren. Unter anderem sollen Versicherte mehr Zusatzbeitrag zahlen und die Krankenkassen ihre Reserven um vier Milliarden Euro abschmelzen. Langfristig wirkende Strukturmaßnahmen wie etwa eine Krankenhausreform fehlen jedoch komplett, wie Kritiker bemängeln.
Gerade das geforderte Abschmelzen der Reserven hat Karl Lauterbach den Vorwurf eingebracht, er würde die Krise der Krankenkassen eher verschärfen als verhindern. Carola Reimann, Chefin des AOK-Bundesverbandes, warnte im Juli, selbst größeren Anbietern könnte dadurch die Insolvenz drohen. Der Grund: einige Kassen rutschen unter die Mindestreserve von 20 Prozent einer Monatsausgabe. Sie können dann nicht mehr auf plötzlich steigende Ausgaben reagieren, etwa infolge der Inflation. „Was Minister Lauterbach vorgestellt hat, ist weder nachhaltig noch gerecht. Stattdessen betreibt er hektische Flickschusterei, die keine Planungssicherheit über 2023 hinaus bietet“, sagte sie.
Ähnlich äußert sich nun DAK-Chef Storm gegenüber dem Handelsblatt. Der "radikale Rücklagenabbau“ erzeuge „schwerwiegende Schäden am Gesamtsystem“, warnt der Diplom-Volkswirt. Eine verschobene Strukturreform könnte für einige Krankenkassen zu spät kommen.