Den gesetzlich Pflegeversicherten drohen deutlich höhere Beiträge. Zu dieser Einschätzung kommt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium. Der Sozialversicherung könnte ein Legitimationsproblem entstehen, denn bald müsste mehr als jeder zweite verdiente Euro für Sozialbeiträge abgegeben werden. Eine Empfehlung: Es soll eine Pflicht eingeführt werden, eine private Pflegezusatzversicherung abschließen zu müssen.
Die Gesellschaft altert, die Gesundheitskosten steigen - und das setzt auch die Sozialversicherung massiv unter Druck. Davor warnt aktuell ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, das am Mittwoch vorgestellt wurde. Eigentlich widmet sich das Papier speziell der gesetzlichen Pflegeversicherung, doch die Ökonomen sehen das ganze Sozialsystem in Deutschland bedroht. Denn ohne Reformen müsste bald jeder mehr als jeder zweite verdiente Euro für die Sozialversicherung ausgegeben werden. Über das Gutachten berichtete zuerst das Handelsblatt.
Pflegeversicherung - deutlich höhere Beiträge nötig
Ausgangspunkt des Gutachtens ist die Beobachtung, dass die Kosten in der gesetzlichen Pflegeversicherung nahezu explodiert sind, seit sie im Jahr 1995 eingeführt wurde. Im Jahr 2021 lagen sie bei 53,9 Milliarden Euro - sie sind mittlerweile fast dreimal so hoch wie im ersten Jahr ihres Bestehens. Dazu habe auch beigetragen, dass die Leistungen fortwährend ausgebaut worden seien.
Doch damit ist noch nicht das Ende des Kostenanstiegs erreicht - im Gegenteil. Denn die Gesellschaft altert und die Lebenserwartung steigt. Hochbetagte haben ein besonders hohes Risiko, auf Pflege angewiesen sein zu müssen. Entsprechend wird auch der Anteil der Menschen laut Gutachten stark steigen, die pflegebedürftig sind: von heute fünf Prozent der Gesamtbevölkerung auf mehr als 7,5 Prozent in 2050. Folglich werde sich auch der Anstieg der Kosten stark beschleunigen.
Der Beitragssatz in der gesetzlichen Pflegeversicherung müsste bis 2040 um 1,5 bis zwei Prozentpunkte ansteigen, um alle Leistungen wie gewohnt zu finanzieren. Aktuell liegt er bei 3,05 Prozent des Bruttolohns für Versicherte mit Kindern. Wer kinderlos ist, muss gar 3,4 Prozent zahlen.
Sozialversicherung könnte Legitimationsproblem bekommen
Die Gutachter schauen aber nicht allein auf die Kosten der Pflegeversicherung, sondern der gesamten Abgabelast im Sozialsystem. Liegt die Sozialabgabenquote aktuell bereits bei 40 Prozent, könnte sie bis zum Jahr 2040 auf 49 bis 53 Prozent steigen. Damit droht aus Sicht der Experten der Sozialversicherung ein ernstes Legitimationsproblem.
Hierzu heißt es im Bericht: „Es ist zu bezweifeln, dass die Beitragszahlenden des Jahres 2040 bereit sein werden, einen so großen Anteil ihres Arbeitseinkommens abzutreten, dessen überwiegender Teil der Versorgung einer älteren Generation dient, die es versäumt hat, selbst für das Alter vorzusorgen, weil sie weder Kapital angespart noch für eine ausreichende Anzahl an Nachkommen gesorgt hat“.
Als eine Antwort auf das Problem schlägt der Beirat eine Pflicht zur privaten Pflegevorsorge vor. Inwieweit diese für mehr Generationengerechtigkeit sorgt, ist zumindest diskutabel. Auch dann bliebe den jüngeren Generationen weniger vom Bruttolohn übrig - nur dass das Geld an einen privaten Anbieter fließt statt in die gesetzliche Sozialversicherung. Werden die Versicherer verpflichtet alle Bürgerinnen und Bürger aufzunehmen, müsste sich der hohe Anteil älterer Menschen auch in den Prämien widerspiegeln. Der Vorteil: über einen angesparten Kapitalstock könnte das Umlageverfahren entlastet werden.
Reformvorschläge des Beirates
Um die Pflege auch zukünftig finanzierbar zu halten, unterbreitet der Beirat Forderungen und Reformvorschläge. Einige davon würden für jetzige Pflegebedürftige Mehrlasten bedeuten. So spricht sich der Beirat unter anderem dagegen aus, die Eigenbeiträge zur stationären Pflege zu deckeln, wie es seit dem Jahresanfang 2022 praktiziert wird. Abhängig von der Länge des Aufenthalts in einer Pflegeeinrichtung erhalten die Betroffenen einen Zuschuss von fünf bis maximal 70 Prozent zu den „reinen“ Pflegekosten im Heim. Der Eigenanteil für Unterkunft, Verpflegung und für Investitionen im Heim muss jedoch weiterhin voll von den Patienten bezahlt werden.
Weitere Reformvorschläge sind:
- Der Leistungskatalog der sozialen Pflegeversicherung sollte nicht weiter ausgedehnt werden, um die Finanzierungslasten nicht noch weiter zu erhöhen.
- Der zu erwartende Beitragsanstieg ab 2030 soll abgeflacht werden, indem der Beitrag zur Pflege maßvoll angehoben wird und mit dem Geld der Pflegevorsorgefonds aufgestockt. Aktuell werden im Fonds 0,1 Prozentpunkte der Pflege-Beiträge pro Jahr angespart, dies entspricht etwa 1,2 Milliarden Euro. Dieser Vorschlag zielt darauf, zusätzlich zum Umlageverfahren einen höheren Kapitalstock anzusparen.
- Steigende Eigenanteile werden nach Ansicht des Beirates dazu führen, dass immer mehr Pflegebedürftige auf Sozialhilfe angewiesen sein werden. Hier sollen die Bürgerinnen und Bürger zusätzlich privat vorsorgen müssen. Die Betonung liegt auf „müssen“, denn der Beirat schlägt eine Pflicht zur privaten Pflegevorsorge vor. „Das gilt insbesondere dann, wenn mit zunehmendem Trittbrettfahrerverhalten gerechnet wird, bei dem einige weder eine freiwillige Zusatzversicherung abschließen noch genügend Ersparnisse bilden und dann im Pflegefall den Steuerzahlenden zur Last fallen“, heißt es im Bericht.
- Eine Ausweitung der Versicherungspflicht im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung, wie sie im Koalitionsvertrag angekündigt wird, hält der Beirat für nicht empfehlenswert, „weil sie nicht generationengerecht ist“. Stattdessen könne der Staat die Bürgerinnen und Bürger zum Abschluss einer privaten Zusatzversicherung mit Kapitaldeckung verpflichten und dabei Personen mit geringen Einkommen aus Steuermitteln gezielt unterstützen.