Bewertungsreserven halfen den Lebensversicherern wesentlich bei der Bewältigung des Niedrigzins. Da bei steigenden Zinsen aus stillen Reserven aber stille Lasten werden, sind Auswirkungen des Niedrigzins noch lange spürbar. Versicherungsbote stellt Zahlen einer neuen Assekurata-Studie vor.
Bei einem Belastungs-EKG misst der Arzt die elektrische Aktivität des Herzens, während der Patient sich körperlich betätigt. Die Lebensversicherer freilich agieren seit Jahren unter einer Dauerlast: Wie kaum eine andere Branche krankte die Lebensversicherung an den Null- und Minuszinsen. Ließen sich doch teure Altgarantien, die in besseren Zeiten vertraglich zugesichert wurden, nicht mehr erwirtschaften. Grund für die Experten von Assekurata, nun schon zum siebten Mal einen "EKG-Check" durchzuführen: Einen "Ertragskraft-Garantie-Check", der zeigen soll, wie belastbar die Unternehmen sind.
Höchstrechnungszins mit Negativrekord
Und die Situation nach jahrelangem Sinkflug der Zinsen zeigt besonders deutlich der Höchstrechnungszins in der Lebensversicherung: Er nahm zu Beginn 2022 von 0,90 Prozent auf 0,25 Prozent ab. Der Höchstrechnungszins schreibt vor, mit welchem Zins die Reservierung der Versichertenguthaben in der Deckungsrückstellung maximal berechnet werden darf. Ein Maximalzins von 0,25 Prozent macht „klassische“ Produkte mit Zinsgarantien fast unmöglich. Viele Versicherer sehen deswegen mittlerweile völlig von einem garantierten Zins ab und garantieren nur noch den Erhalt eines bestimmten Prozentsatzes der eingezahlten Beiträge (Versicherungsbote berichtete).
Nun trat 2022 eine wichtige Wende für das Geschäft der Lebensversicherer ein: Eine Abkehr der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion von der Politik des billigen Geldes. Erhöhte doch die Europäische Zentralbank den Leitzins in mehreren Schritten auf mittlerweile 2,5 Prozent (Stand Dezember 2022), so dass das Tal des Niedrigzins durchschritten scheint. Dies schafft sofort andere Bedingungen, wie auch Assekurata-Geschäftsführer Reiner Will ausführt: bei Rückschau ins Jahr 2021 komme es „einem so vor, als ob die Welt damals noch eine gänzlich andere war.“ Andere Bedingungen aber bedeuten noch keine schnelle Entspannung.
Dies wird durch eine Beibehaltung des Höchstrechnungszinses bestätigt: Die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) empfahl, den Höchstrechnungszins auch 2024 noch bei 0,25 Prozent zu belassen. Lebensversicherer also kalkulieren weiterhin mit historisch niedrigen Zinsen.
In der ZZR liegt das Fünffache des marktweiten bilanziellen Eigenkapitals
Schon 2011 war die Politik mit dem Problem konfrontiert, dass hohe Garantien zu einem unternehmerischen Risiko für Lebensversicherer wurden – zum Glück, wie man in der Rückschau sagen muss. Damals wurde die Zinszusatzreserve als obligatorischer Sicherheitspuffer für das Bedienen hoher Altgarantien gesetzlich festgeschrieben. Seit dem Lebensversicherungsreformgesetz (LVRG) von 2014 orientieren sich Referenzzins und damit auch Zinszusatzreserve am Niveau von Null-Kupon-Euro-Zinsswapsätzen mit einer Laufzeit von zehn Jahren. Obwohl die ZZR zu einem wichtigen Instrument zur Bewältigung der Zinskrise wurde, bedeutet sie für die Versicherer auch eine hohe Last.
Denn hohe Abflüsse schränkten den Handlungsspielraum der Versicherer stark ein und entzogen einen großen Teil des aktives Kapitals. Zwischen 2011 und Ende 2021 wurden branchenweit bereits rund 96 Mrd. Euro nachreserviert – die gewaltige Summe entspricht knapp dem Fünffachen des marktweiten bilanziellen Eigenkapitals. Auch im Jahr 2021 musste noch Geld in die Zinszusatzreserve abgeführt werden – der Referenzzins lag bei 1,57 Prozent. Zugeführt wurden rund 9,5 Mrd. Euro, was etwa dem Vorjahresniveau für 2020 entspricht.
Realisierung der Zinszusatzreserve durch Realisierung von Bewertungsreserven
Lebensversicherer investieren einen großen Teil ihres Geldes in festverzinslichen Anlagen mit langer Laufzeit: Noch aktuell macht dieser Anteil etwa 80 Prozent des gesamten Anlage-Portfolios aus. Davon profitierten die Unternehmen in Zeiten des Niedrigzins: Bei festverzinslichen Wertpapieren, die in der Hochzinsphase erworben wurden, lag der Marktwert im Niedrigzinsumfeld weit über dem Kaufwert. Noch zum Ende des Geschäftsjahrs 2021 bestanden marktweit 155 Mrd. Euro stille Reserven (man hätte Ende des Geschäftsjahrs 2021 die ZZR noch mehr als anderthalbmal aus bilanziellen Reservemitteln finanzieren können).
Wie die Experten von Assekurata zeigen, dienten stille Reserven wesentlich zur Finanzierung der Zinszusatzreserve. Als der Gesetzgeber in 2011 die Zinszusatzreserve einführte, ging er noch davon aus, dass Unternehmen sie durch das reine Anlageergebnis erwirtschaften könnten. Die Zinsen aber sanken derart schnell, dass der Markt nicht genügend Kapital abwarf. Deswegen mussten die Unternehmen immer mehr auf ihre Bewertungsreserven zurückgreifen: In den Jahren 2012 bis 2021 wurden regelmäßig Reserven realisiert in einer Höhe, die etwa der jährlichen Zuführung der Branche zur Zinszusatzreserve entsprach.
Im Ergebnis entwickelten sich Nettoverzinsung (mit realisierten Reserven) und laufende Durchschnittsverzinsung aus den Kapitalanlagebeständen immer mehr auseinander: 2020 lag die Nettoverzinsung bei 3,74 Prozent, die laufende Durchschnittsverzinsung der Kapitalanlagen aber nur bei 2,92 Prozent; in 2021 lag die Nettoverzinsung bei 3,58 Prozent, die laufende Durchschnittsverzinsung der Kapitalanlagen aber nur bei 2,52 Prozent. Bei einzelnen Unternehmen kann diese Spanne noch wesentlich weiter auseinander gehen, was bei Deutung der Nettoverzinsung häufig übersehen wird: eine hohe Verzinsung begründet sich teils nicht durch das Anlageergebnis, sondern durch eine umfangreiche Realisierung von Bewertungsreserven.
Stille Lasten statt stille Reserven: EKG-Quote dürfte sich 2022 halbieren
Wie wirkt sich nun der Zinsanstieg auf Bewertungsreserven und damit auf die Widerstandskraft der Lebensversicherer aus? Dies lässt sich zeigen anhand einer Kennzahl: Die EKG-Quote wurde von Assekurata eigens entwickelt, um die Standfestigkeit der Lebensversicherer zu bewerten. Die Idee hinter der Quote ist einfach: Je höher die Ertragskraft eines Lebensversicherers ist und je geringer dessen Zinsanforderungen zum Bedienen der Garantien und der Zinszusatzreserve sind, desto sicherer ist ein Unternehmen aufgestellt. Durchschnittswerte dieser Quote können aber auch Tendenzen am Markt aufzeigen.
Die Quote errechnet sich durch folgende Formel:
EKG-Quote (in %) = [Kapitalanlageergebnis gesamt + Risikoergebnis + übriges Ergebnis + 0,5 * Bewertungsreserven + freie RfB] in % der Rechnungszinsanforderung (inkl. ZZR)
Hat ein Anbieter zum Beispiel die EKG-Quote von 300 Prozent, dann reicht das verfügbare Ertragsprofil dieses Anbieters theoretisch aus, um die im Bilanzjahr bestehenden Rechnungszinsanforderungen dreifach zu finanzieren – sofern neben den vereinnahmten Ergebnissen auch die Hälfte der bestehenden Bewertungsreserven sowie die freie Rückstellung für Beitragsrückerstattungen (freie RfB) komplett aufgelöst würden. Freilich: Ein solches Handeln wäre nur im äußeren Notfall gerechtfertigt und hätte gravierende Auswirkungen (zum Beispiel auf die Überschussbeteiligung der Kunden). Gerade deshalb eignet sich die EKG- Quote aber als Standhaftigkeits-Kennziffer, erklären die Experten aus Köln.
Quote des Marktes sinkt 2021 um 70 Prozentpunkte
In einer Grafik veranschaulichen die Experten, zu welchen Anteilen sich am Markt eine EKG-Quote von 100 Prozent in 2021 zusammen setzt:
- 24,25 Prozent "Ertrags-Widerstands-Kraft" hat das Kapitalanlageergebnis.
- 4,63 Prozent des "Ertragswiderstands" stammen vom Risikoergebnis.
- 0,80 Prozent des Widerstands stammen vom übrigen Ergebnis.
- 18,63 Prozent entstammen der freien Rückstellung für Beitragsrückerstattungen (freie RfB).
- Hohe 51,70 Prozent der "Ertrags-Widerstandskraft" aber entstammen dem Anteil der Bewertungsreserven.
Zwar hat der Anteil der Bewertungsreserven in 2021 leicht an Dominanz verloren: Er ging zurück von 59,97 Prozent auf 51,70 Prozent. Dennoch ist dieser Anteil noch hoch genug, um mehr als die Hälfte der Quote auszumachen. Und hier kommen steigende Zinsen ins Spiel. Denn steigende Zinsen lassen die Bewertungsreserven schrumpfen: Ein nur leicht gestiegenes Zinsniveau 2021 hat die marktweiten Reserven bereits von 215 Mrd. Euro auf 155 Mrd. Euro gedrückt. Folglich sinkt auch die Ertragskraft-Garantie-Quote: von 553,25 Prozent auf 488,34 Prozent.
Steigende Zinsen: Langfristig gut, kurzfristig eine hohe Belastung
Der Effekt ist in 2022 noch wesentlich stärker, da nun die Zinsen schnell ansteigen. Das zeigt der zehnjährige Null-Kupon-Euro-Swap: Zwischen 2020 und 2021 kletterte der Jahresmittelwert nur langsam, und zwar von minus 0,19 Prozent auf 0,04 Prozent zum Jahresende 2021. Hier spiegelt sich jener leichte Zinsanstieg, der die Bewertungsreserven der Lebensversicherer bereits schrumpfen ließ. In 2022 aber überschritt der zehnjährige Null-Kupon-Euro-Swap teils die Drei-Prozent-Marke.
Dies wirkt sich natürlich auf die Bewertungsreserven aus: Aus stillen Reserven werden stille Lasten. Die Experten von Assekurata schätzen, dass sich 155 Mrd. Euro stille Reserven 2022 in 50 Mrd. Euro stille Lasten verkehren. Was aber bedeutet dies konkret?
Auf lange Sicht kann sich die Branche nur durch steigende Zinsen erholen
Zunächst einmal wird das Polster der Branche abnehmen: Die EKG-Quote des Marktes liegt laut Assekurata in 2022 bei rund 200 Prozent. Somit hat sich die Finanzkraft der Unternehmen zunächst glatt halbiert. Zugleich kommt es aber zu Rückflüssen aus der Zinszusatzreserve: Ein Abbremsen bzw. Gleichbleiben des Referenzzinses bedeutet, dass in den Folgejahren keine weiteren Tarifgenerationen der Lebensversicherer nachreservierungspflichtig sind. Folglich rechnen die Experten in den kommenden zwei Jahren mit Rückflüssen von jeweils drei bis vier Mrd. Euro, danach mit Rückflüssen von fünf Mrd. Euro aus der ZZR. Die Rückflüsse sind langsamer als der Effekt steigender Zinsen auf die Bewertungsreserven, wird aber insbesondere nach Anpassung des Referenzzinses zunehmen (auf ein Niveau von jährlich sieben bis neun Mrd. Euro).
Hierzu muss ebenfalls erwähnt werden, dass stille Reserven sehr schwankungsanfällig sind und deswegen keine nachhaltige Sicherheit bieten. Zumal sie auch nicht dauerhaft eine Branche gegen den Niedrigzins absichern können – irgendwann sind die Reserven schlicht aufgelöst und aufgebraucht. Steigende Zinsen aber verhelfen den Unternehmen wieder zu sichereren Gewinnen durch die Kapitalanlage, so dass auf lange Frist die Lebensversicherung im Ganzen profitieren kann.
Nicht alle Versicherer sind vom Risiko stiller Lasten gleich betroffen
Auch kommen die Lebensversicherer relativ ungeschoren davon, die geringe Garantieverpflichtungen und hohe Kapitalerträge haben – besonders, wenn der Anteil der Bewertungsreserven am Ertrag klein ist. Besonders Unternehmen mit einer Vielzahl neuer (z.B. fondsgestützter) Produkte oder Unternehmen mit einem Schwerpunkt im Risikogeschäft können der aktuellen Situation gelassen entgegen sehen. Andererseits sind Unternehmen mit einstigem Schwerpunkt in der traditionellen kapitalbildenden Lebensversicherung eher gefährdet. Und hier braucht es einen langen Atem.
Betroffene Versicherer brauchen einen langen Atem
Denn stille Lasten sind dann kein Problem, sobald jene festverzinslichen Anlagen, die im Niedrigzins-Umfeld erworben wurden, bis zum Ende der Laufzeit gehalten werden. Zwar liegt dann der Marktwert (anders als bei stillen Reserven) unter dem Kaufwert. Jedoch kommt es beim Halten bis zur Endfälligkeit nicht zu Abschreibungen.
Stille Lasten bergen hingegen dann ein Risiko, wenn Versicherer in finanzielle Bedrängnis geraten: Etwa, weil bestehende Kunden im großen Stil ihre Verträge kündigen oder wenn Bonitätsverschlechterungen der Emittenten Abschreibungen nötig machen, wie die Experten von Assekurata erklären. Dann könnten vorzeitig realisierte Anlagen zu weiteren Verlusten führen. Die Assekurata-Studie mit vielen Kennzahlen auch zu Einzelunternehmen kann kostenpflichtig auf der Webseite der Kölner Experten erworben werden.