„Menschsein, das wird immer mehr sein als Einsen und Nullen“, erklärt Martin Gräfer, Vorstand der Versicherungsgruppe die Bayerische. Dennoch traut er ChatGPT und anderen KI-Tools eine Menge zu.
„Das bist unverkennbar Du“, antwortete mir ein geschätzter Kollege kürzlich unter meinem LinkedIn-Beitrag. Am Ende eines Artikels über den (wieder einmal) herbeizitierten Niedergang der Versicherungsbranche hatte ich meine Leserschaft um einen Tipp gebeten: Wer war hier der Autor, das neue „Wunder-Tool“ ChatGPT oder meine Wenigkeit?
Tatsächlich hatte sich keiner der Kommentatoren, die mich alle persönlich kennen, täuschen lassen. Alle entlarvten mich als Urheber hinter den entsprechenden Zeilen. Tummeln sich unter meinen LinkedIn-Kontakten also besonders viele Hobby-Sprachforensiker? Das würde mich überraschen.
Das Geheimnis hinter meiner Autoren-Entlarvung ist viel einfacher: Aspekte wie Individualität, Nahbarkeit, Emotion und Vertrauen sind es, die menschliche Kommunikation immer noch einzigartig machen – und damit weit über die reine Vermittlung von Fakten hinausreichen. Aspekte, die auch im Vertrieb über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Ohne Herz wird es schwer – den Rest übernimmt die KI?
Zeitfresser-Fresser
Ich liebe Innovation. Mit entsprechender (Vor)Freude blicke ich deshalb auf neue Tools, wie ChatGPT und die generelle Entwicklung in der Künstlichen Intelligenz. Die Geschichte zeigt: Kulturpessimisten, die schon bei Entstehung des maschinellen Buchdrucks den Verfall von Zivilisation und guten Sitten heraufbeschworen, blamierte am Ende meist die Realität. Für ebenso naiv halte ich jedoch jene Art von Fortschritts-Propheten, die mit jeder neuen Innovation vorschnell in den Abgesang auf ganze Wirtschaftszweige einstimmen. Wie oft galt der Versicherungsvertriebs angesichts von Digitalisierung, Insurtechs und Co. schon als obsolet?
ChatGPT und vielleicht noch raffiniertere KI-Tools, die da folgen mögen (hallo Google Bard!), sehe ich zunächst als wunderbare Chance, unseren Arbeitsalltag besser, weil effizienter und erfüllender zu machen. Der Faktor Effizienz liegt auf der Hand: Es sind Aufgaben wie die 24/7-Beantwortung von Standard-Kundenfragen, beispielsweise zu Vertragsdetails, die Recherche und Zusammenstellung grundlegender Informationen, das Verfassen von Mails und Webseitentexten oder die Erstellung einfacher Codes, die ChatGPT uns abnehmen kann. Und ja, auch im kreativen Bereich liefert die KI teils schon beeindruckende Ergebnisse.
Folglich ist es realistisch, dass wir einige Aufgaben im Versicherungsvertrieb und auch Betrieb schon bald an KI-Anwendungen delegieren könnten. Doch was folgt daraus? Jede Arbeitsstunde, die uns Bots auf diese Art und Weise freischaufeln, könnten Beraterinnen und Berater künftig in das wertvollste Asset investieren, das es für unsere Branche gibt: den Aufbau langfristiger und vertrauensvoller Kundenbeziehungen.
Menschsein als USP
Was uns zum Faktor Erfüllung bringt: Die durch ChatGPT, Google Bart und Konsorten in Zukunft freiwerdende Zeit können und sollten wir zur Fokussierung auf das nutzen, für das uns Kunden auch in Zukunft jedem Roboter vorziehen werden – unserem Menschsein. Ein Menschsein, das Vertrauen erweckt und vertieft. Ein Menschsein, das immer mehr sein wird als Einsen und Nullen. Kurzum – das Herz besitzt. Vermittlerinnen und Vermittler werden trotz und mit KI-Support in Zukunft dann Erfolg haben, wenn sie ihre Individualität und die Individualität ihrer Kunden zum zentralen Auftrag, zum unique selling point ihres Tuns machen.
Denn Menschen vertrauen Menschen – vor allem dann, wenn es um elementare Zukunftsfragen geht. Wenig überrascht mich daher das Ergebnis einer jüngst von der Gothaer in Auftrag gegebenen Umfrage. Diese fand heraus, dass 67 Prozent der Bürger beim Thema Versicherungen von einem Vermittler oder einer Vermittlerin beraten werden möchten. Also einem Menschen aus Fleisch und Blut. Fast jeder zweite Befragte nannte den Faktor Vertrauen als Grund.
Grenzen der KI
Ein aktuelles Beispiel, das mich persönlich in den letzten Monaten sehr beschäftigt hat, unterstreicht die Wichtigkeit des „Faktors Mensch“: So haben Personen, die bereits in psychotherapeutischer Behandlung waren, manchmal Schwierigkeiten den so elementaren Berufsunfähigkeits-Schutz zu erhalten. Diese "Ablehnpolitik" in der Risikoprüfung würden wir gerne ändern. Denn wenn sich Menschen psychologische Unterstützung suchen, sehe ich das als Stärke, nicht als Schwäche.
Deshalb eröffnen wir BU-Interessenten, die bislang aufgrund einer psychologischen Behandlung schlechtere Aussichten auf das Bestehen der BU-Risikoprüfung haben, in Zukunft eine zusätzliche Möglichkeit: Bei Unsicherheit über die Aufnahme in die BU bieten wir dem Antragssteller ein individuelles Gespräch mit einer Psychotherapeutin an. Diese prüft mögliche Lösungen, wie wir die Person bestenfalls doch versichern können. Meine Frage: Glauben Sie, dass Menschen solche Entscheidungen wirklich lieber in die Hände von Algorithmen anstatt eines empathiefähigen menschlichen Experten legen?
Wenn Sie mich fragen, werden zwischenmenschliche Interaktionen in all ihren faszinierenden Facetten ihre Einzigartigkeit bewahren – und somit die persönliche Beratung in unserer Branche immer einen Platz haben. ChatGPT und andere KI-Tools räumen uns dafür vielleicht sogar noch mehr Zeit frei.
„Und weil er lacht. Und weil er lebt“, huldigt Herbert Grönemeyer das Menschsein in seinem Klassiker „Mensch“. „Und weil er berät“ dürfen wir im Hinblick auf die Zukunft der Versicherungsberatung optimistisch ergänzen.