Wirtschaft warnt vor „schleichender Einführung der Bürgerversicherung“

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In der Kranken- und Pflegeversicherung sollte die Beitragsbemessungsgrenze erhöht werden, so eine SPD-Forderung. Darin sehen Gegner des Vorhabens nichts anderes als die „schleichende Einführung der Bürgerversicherung“.

Das drohende Milliarden-Defizit in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zwingt dazu, Fragen zur Finanzierung der Sozialversicherung neu zu stellen. So forderte SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt gegenüber dem Handelsblatt (HB) eine „deutliche Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze“ in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Anhebung sollte auf das Niveau der Rentenversicherung (7.300 Euro/West; 7.100 Euro/Ost) erfolgen.

Neu ist dieser Vorschlag allerdings nicht. Vor knapp einem Jahr forderte der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, dass die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze nicht länger ein Tabu sein sollte. Das sei, so Dahmen, auch eine Frage von Solidarität im System. „Starke Schultern sollten in Krisenzeiten mehr Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen“, so Dahmen.

Hinter der Forderung nach einer Anhebung stehe nichts anders als die Einführung einer „Bürgerversicherung durch die Hintertür“, schreibt HB-Hauptstadtkorrespondent Jürgen Klöckner in einem Kommentar. Eine „saftige Anhebung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze bis auf das Niveau der Rentenversicherung“ hätte zur Folge, dass besserverdienende Angestellte, die gesetzlichen Kassen nicht mehr in Richtung privater Krankenversicherung verlassen könnten. Und wer höhere Einkommen bezieht (aber nicht wechseln kann), zahlt deutlich höhere Beiträge in der GKV. „Die private Krankenversicherung müsste bluten, damit die ständig defizitäre gesetzliche Krankenversicherung besser finanziert ist“, so Klöckner weiter.

Tatsächlich befasste sich sogar der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags mit der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze im Rahmen der Einführung einer Bürgerversicherung. Genauer: Mit den damit verbundenen verfassungsrechtlichen Grenzen. In der bereits 2021 erschienenen Ausarbeitung heißt es: „Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) der Versicherten stehe nach Auffassung einiger Autoren einer Anhebung der Beitragsbemessungs- und Pflichtversicherungsgrenze grundsätzlich dann nicht entgegen, wenn sich die Anhebung in einem verhältnismäßigen Rahmen bewegt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlange in materiell-rechtlicher Hinsicht eine gewisse Relation zwischen Beitrag und Leistung.“

Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze: „maßvoll“ oder „erheblich“?

Die Ausarbeitung kommt zu dem Schluss, dass die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze „sehr umstritten“ in der Rechtswissenschaft sei. Während eine „maßvolle Anhebung“ von dem meisten Autoren für zulässig gehalten werde, würde eine „erhebliche Anhebung“ oder gar der Wegfall von einigen Rechtsgelehrten als verfassungswidrig eingestuft.

Bringt man diese Ergebnisse mit der erneuten Forderung zusammen, bleibt als plakative Streitfrage, ob die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung „maßvoll“ oder „erheblich“ wäre.

Die Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft (vbw) hat ebenfalls die Auswirkungen einer Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze untersucht und die Ergebnisse bereits Ende März veröffentlicht - also vor den erneuten SPD-Forderungen gegenüber dem Handelsblatt. Eines der wichtigsten Argumente der Wirtschaftsvereinigung: Eine solche Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze wäre ein klarer Standortnachteil: „Die angedachte Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) belastet sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber stark. Die Folgen für die Lohnzusatzkosten wären erheblich und ein klarer Standortnachteil. Bei den Arbeitgebern würden die von der Kranken- und Pflegeversicherung verursachten Lohnzusatzkosten um bis zu 46,4 Prozent steigen. Eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze wäre nichts anderes als eine Sondersteuer auf den Faktor Arbeit. Daher sagen wir klar: Der Wettbewerb zwischen gesetzlichen und privaten Krankenkassen muss erhalten bleiben“, so vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt.

Schließlich würde sich der Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung dämpfend auf die Lohnzusatzkosten auswirken, meint Brossardt. Mit Blick auf die geforderten Strukturreformen betont die vbw, dass auch die staatliche Bezuschussung der Sozialversicherung mit Steuer- und Haushaltsmitteln kein nachhaltiges Modell darstellt. Brossardt: „Die Stabilisierung der Sozialversicherungen durch öffentliche Mittel verursacht eine Budgetkonkurrenz zu wichtigen Zukunftsinvestitionen in die Bildung, Forschung, Infrastruktur oder in die Digitalisierung. Die nötigen Reformen in diesen Bereichen werden dadurch verzögert. Die Sachlage fordert pragmatisches Handeln: Wir müssen mit Blick auf die Demografie Leistungen hinterfragen und die Rente mit 67 konsequent ausgestalten.“

Einen vorläufigen Höhepunkt könnte die aktuelle Debatte am kommenden Montag finden. Dann treffen u.a. Bertram Brossardt, Klaus Holetschek, Bayerns Gesundheitsminister, Dr. Doris Pfeiffer (GKV-Spitzenverband) und Dr. Florian Reuther (PKV-Verband) in einer Podiumsdiskussion der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft (vbw) direkt aufeinander.