Der Ökonom Bernd Raffelhüschen kommt erneut mit einem radikalen Reformvorschlag um die Ecke, um die Kosten im Gesundheitssystem zu senken. Demnach sollen gesetzlich Versicherte bis zu 800 Euro Selbstbeteiligung pro Arztbesuch zahlen.
Der Ökonom Bernd Raffelhüschen saß bis 2020 im Aufsichtsrat der Ergo und ist Markenbotschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Die Lobbyorganisation der Arbeitgeber setzt sich für weniger Staat und mehr Privatvorsorge ein. Seine Reformvorschläge sind immer wieder Thema in den Medien, auch, weil sie aufsehenerregend und radikal sind. Im Februar forderte er, dass gesetzlich Versicherte bis zu 2.000 Euro Selbstbeteiligung pro Jahr für Arztbesuche zahlen sollen. Wer Ski fährt oder Risikosportarten ausübt, soll die Folgekosten von Unfällen sogar komplett selbst tragen müssen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erteilte den Vorschlägen eine klare Absage. „Der Vorschlag wird nicht kommen. Für Uniprofessoren wie Herrn Raffelhüschen oder mich wären diese Vorschläge bezahlbar. Für die große Mehrheit der Bevölkerung geht das nicht“, schrieb Lauterbach auf Twitter.
800 Euro Selbstbeteiligung für die ersten Arztbesuche
Auch der jüngste Reformvorschlag des Freiburger Professors hätte für viele gesetzlich Versicherte bittere Konsequenzen. Und Raffelhüschen macht mit Aussagen auf sich aufmerksam, die zumindest fragwürdig sind. Seine Grundthese: Um das Gesundheitssystem wirksam zu reformieren und die Kosten im System zu senken, müssen die Deutschen es deutlich im Portemonnaie spüren, wenn sie zum Arzt gehen und medizinische Behandlungen in Anspruch nehmen. „Gesundheit ist für Menschen etwas, das nichts kostet. Sie können zum Arzt gehen, ohne zu zahlen. Das muss sich ändern. Preisfühlbarkeit muss her“, zitiert die BILD den Ökonomen. Gesundheit ist etwas, das nichts kostet? Viele Beschäftigte dürften beim monatlichen Blick auf den Gehaltszettel zu einer anderen Einschätzung kommen.
Mit seinem jüngsten Vorstoß hat Raffelhüschen seinen im Februar vorgelegten Vorschlag verfeinert. Nach wie vor sollen gesetzlich Versicherte bis zu 2.000 Euro im Jahr für Arztbesuche zahlen. Damit wären die ersten Verlierer der Reform bereits ausgemacht: Chronisch Kranke, die auf regelmäßige Arztbesuche - auch zur Kontrolle - angewiesen sind, und ältere Menschen, die statistisch gesehen häufiger an Krankheiten und Gebrechen leiden. Auch Eltern von Kleinkindern könnten überproportional belastet werden. Laut einer forsa-Umfrage aus dem Jahr 2019 suchen vier von zehn Eltern (36 Prozent) mit einem Kleinkind unter drei Jahren zwei bis fünf Mal im Jahr eine Arztpraxis auf, 15 Prozent, weil sie einen akuten Notfall vermuten.
Nun fordert Raffelhüschen laut einem Bericht der BILD: „Kassenpatienten sollen künftig die ersten 800 Euro für Arztbesuche (ausgenommen stationäre OPs) selbst tragen – und so die Kosten-Explosion dämpfen“. Doch auch nachdem die 800-Euro-Marke erreicht ist, sollen die gesetzlich Versicherten nicht von Kosten verschont bleiben. Danach sollen die gesetzlich Versicherten die Kosten für Behandlungen zu 50 Prozent selbst tragen, bis die 2.000 Euro erreicht sind. Erst danach springt die Krankenkasse vollständig für die Kosten ein.
Die Notwendigkeit der Reform begründet Raffelhüschen mit drastischen Zahlen. Der Krankenkassen-Beitrag müsste ohne Eingriffe von derzeit durchschnittlich 16,2 Prozent auf 35 Prozent steigen, argumentiert der Ökonom. Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilen sich diesen Beitrag. Schon heute würden die Gebühren für Ärzte sich um jährlich zehn bis 20 Milliarden Euro verteuern. „Wir können uns das System nicht mehr leisten“, sagt Raffelhüschen der BILD. Hier kommen andere Studien auf weniger drastische Zahlen. Die Bertelsmann Stiftung prognostiziert für das Jahr 2040 einen Beitragssatz von 18,7 Prozent.
Doch das sind nicht die einzigen Vorschläge, mit denen Raffelhüschen die Kosten im GKV-System senken will. Darüber hinaus fordert er:
- Die Zahl der Kliniken soll in Deutschland um 30 bis 40 Prozent reduziert werden. Laut Statistischem Bundesamt gab es hierzulande im Jahr 2021 rund 1.900 Kliniken. Tatsächlich plant auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, weniger Klinikstandorte bereitzuhalten, um Kosten zu senken. Hierzu positionierte sich am Montag die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG): „Auch wir als Krankenhäuser haben längst akzeptiert, dass wir Standorte zusammenlegen, umgestalten oder schließen müssen“, sagte DKG-Chef Gaß dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Für die Patientinnen und Patienten bedeutet das aber auch: längere Wege, zum Beispiel bei Notfällen. Der Klinikverband erwartet, dass binnen zehn Jahren jedes fünfte Krankenhaus geschlossen wird.
- Jeder Kassenpatient soll vom Arzt eine Rechnung erhalten, aus der hervorgeht, was die Behandlung gekostet hat. Diese soll bei der Krankenkasse anschließend eingereicht werden. Das könnte auch bedeuten, dass die Versicherten die Kosten zunächst vorschießen sollen. Bei Privatversicherten ist das bereits Usus. Gesetzlich Versicherte erfahren in der Regel jedoch nicht konkret, wie viel ihre Behandlung gekostet hat. Auch dieser Vorschlag soll dazu beitragen, die Kostensensibilität der gesetzlich Versicherten zu erhöhen.
- Raucher und Übergewichtige sollen stärker an den Folgekosten für Behandlungen beteiligt werden. Auch hier ist es in der privaten Krankenvollversicherung gängige Praxis, dass Raucher und Menschen mit bestimmten Gesundheitsrisiken mehr Beitrag zahlen müssen. Wer Risikosportarten ausübt, soll die Behandlungskosten von Unfällen komplett selbst übernehmen. Raffelhüschen nennt Skifahren als Beispiel. Je nach Vertrag werten Versicherer aber auch andere gängige Sportarten wie zum Beispiel Mountainbiking, Klettern, Tauchen und bestimmte Kampfsportarten als Risikosport.
Was passiert, wenn die Menschen seltener zum Arzt gehen?
Welche Folgen die Reform hätte, dazu hat sich Raffelhüschen bereits im Februar positioniert. Nach seiner Einschätzung würden durch die Reform vor allem ältere Menschen verstärkt zur Kasse gebeten, während Beschäftigte und Beitragszahler stark davon profitieren, berichtet die BILD. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Auch Menschen mit chronischen Krankheiten sowie Beschäftigte, die in Risikoberufen mit hoher Verletzungs- und Unfallgefahr arbeiten -etwa Dachdecker und Handwerksberufe-, würden voraussichtlich verstärkt zur Kasse gebeten.
Dass die Idee, Behandlungen durch zusätzliche Kosten unattraktiver zu machen, ein gefährlicher Irrweg sein kann, haben bereits die Erfahrungen mit der Praxisgebühr gezeigt. Ab 2004 mussten Kassenpatienten für jeden ersten Arztbesuch im Quartal zehn Euro Gebühr zahlen, doch 2012 wurde diese Extragebühr wieder abgeschafft. Ein Grund: Studien hatten gezeigt, dass vor allem finanziell schlechter gestellte Menschen Arztbesuche aufschieben und Vorsorgeangebote weniger in Anspruch nehmen. Genau das kann aber die Behandlungskosten in die Höhe treiben, etwa wenn Krankheiten erst spät erkannt werden und dann schwerwiegendere Eingriffe nötig sind. Auch ärztliche Präventionsangebote würden wohl seltener in Anspruch genommen.
Auch hatte sich die Praxisgebühr als bürokratisches Monster erwiesen. Die damalige Bundesregierung bezifferte die jährlichen Verwaltungskosten im letzten Jahr der Gebühr auf 330 Millionen Euro. In den Arztpraxen entstand ein deutlicher Mehraufwand: zusätzlich zu den ohnehin hohen Dokumentations- und Verwaltungspflichten. Die Koalition und Opposition kippten die Gebühr 2012 im Bundestag mit 548 zu null Stimmen: ein einstimmiges Ergebnis. „Das habe ich im Deutschen Bundestag noch nie erlebt“, wunderte sich der damalige Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse.
Die Kosten beim Arzt würden zusätzlich zu den ohnehin hohen Beiträgen anfallen, die Beschäftigte für die Kranken- und Pflegeversicherung von ihrem Bruttogehalt abführen müssen. Doch auch hierfür hat Raffelhüschen eine Idee: Gesetzlich Versicherte können die 800 Euro per privater Zusatzversicherung absichern. Auch in diesem Fall müssten Menschen mit chronischen Erkrankungen und höheren Gesundheitsrisiken für ihren Zusatzschutz wohl deutlich mehr Beitrag zahlen. Im Zweifel gilt dann: Rechtsanwälte und Bankmitarbeiter zahlen weniger als Dachdecker und Handwerker.