Der Bundesgerichtshof hat im sogenannten Dieselgate-Skandal ein verbraucherfreundliches Urteil gefällt - und damit EU-Recht umgesetzt. Demnach haben die Käufer von Dieselautos auch dann Anspruch auf Schadensersatz, wenn ein Autohersteller eine unzulässige Abgaseinrichtung fahrlässig eingebaut hat und nicht vorsätzlich.
Der Dieselgate-Skandal beschäftigt weiter die deutschen Gerichte, wie ein aktuelles Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) zeigt. Und er könnte den Rechtsschutzversicherern erneut hohe Kosten verursachen, denn die Karlsruher Richterinnen und Richter haben ein verbraucherfreundliches Urteil gefällt. Damit war allerdings nicht zu rechnen. Nachdem die Kläger in den Vorinstanzen abgeblitzt waren, ist es erneut ein vorangegangenes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), das die deutschen Gerichte zum Einlenken zwingt. Wie auch beim Streit um das Policenmodell in der Lebensversicherung zeigt sich: Oft verfolgt die europäische Rechtssprechung einen strengeren Verbraucherschutz als die deutsche, sodass hierzulande nachträglich Korrekturen notwendig sind.
Im konkreten Rechtsstreit ging es um die Frage, ob die Käuferinnen und Käufer nur dann Anspruch auf Schadenersatz haben, wenn Autohersteller bei Dieselfahrzeugen vorsätzlich illegale Abschalteinrichtungen eingebaut haben, um einen niedrigeren Schadstoffausstoß vorzutäuschen. Oder ob die Hersteller Käuferinnen und Käufer auch dann entschädigen müssen, wenn der Einbau fahrlässig erfolgt ist. Das bestätigte der Bundesgerichtshof (BGH). Demnach muss ein Autobauer auch dann Ersatz leisten, wenn der Käufer kein vorsätzliches Handeln nachweisen kann. Verhandelt wurden drei Musterfälle unterschiedlicher Fahrzeugtypen (Urteile vom 26. Juni 2023, Az.: VIa ZR 335/21 / VIa ZR 533/21 / VIa ZR 1031).
Streit um Thermofenster in Dieselautos
In einem dieser Musterfälle ging es um ein sogenanntes Thermofenster. Das ist deshalb brisant, weil eine solche Einrichtung in vielen Dieselfahrzeugen eingebaut ist. Aufgabe des Thermofensters ist es eigentlich, den Motor zu schonen. Mit erheblichen Auswirkungen auf den Schadstoffausstoß des Autos: Die Stickoxidemissionen werden nur bei moderaten Temperaturen entsprechend der gesetzlichen Grenzwerte gereinigt. Bei sehr hohen oder sehr niedrigen Temperaturen hingegen wird die Abgasreinigung heruntergefahren. Das Auto stößt dann deutlich mehr Schadstoffe aus. Bei der Kennzeichnung der Abgaswerte wird jedoch in der Regel der dauerhaft reduzierte Schadstoffausstoß ausgewiesen, um die Abgasnormen zu erfüllen und das Auto als umweltfreundlicher darzustellen.
Konkret bedeutet dies, dass Autos die vom Hersteller angegebenen Abgaswerte oft nur unter Laborbedingungen einhalten, nicht aber im realen Straßenbetrieb. Denn keineswegs greift die Technik nur bei arktischen Temperaturen ein. Medienberichten zufolge sorgt das Thermofenster oft erst ab Temperaturen von zehn Grad dafür, dass die Abgasreinigung zugeschaltet wird. Bei sommerlich hohen Temperaturen schaltet sie sich wieder aus. Über viele Wochen und Monate hinweg hat das Auto folglich einen weit höheren Schadstoffausstoß als vom Hersteller angegeben. Die deutschen Gerichte haben an dieser Praxis lange keinen Anstoß genommen, die Europäische Union hingegen wollte sie nicht dulden. Mehrfach hat der Europäische Gerichtshof bestätigt, dass Thermofenster unzulässig sind: speziell, wenn sie bei in Europa üblichen Temperaturen den Katalysator abstellen.
EuGH drängt BGH zur Korrektur der Rechtsprechung
Im März schließlich bestätigte der Europäische Gerichtshof, dass Autokäufer auch dann Schadenersatz verlangen können, wenn ein Autohersteller nur fahrlässig die Abgas-Grenzwerte verletzt. Ein nachweisbar vorsätzliches und sittenwidriges Verhalten muss nicht mehr vorliegen. Allerdings müssen die Käufer nach wie vor nachweisen, dass ihnen ein Schaden entstand (Urteil vom 21. März 2023, Az.: C-100/21).
Zur Begründung führte der EuGH aus, dass ein Käufer beim Erwerb eines Kraftfahrzeugs vernünftigerweise erwarten könne, dass dieses gültige EU-Verordnungen erfüllt, sofern der Hersteller dies bescheinigt. Wird der Käufer in diesem Vertrauen enttäuscht, kann er von dem Fahrzeughersteller, der die Übereinstimmungsbescheinigung ausgegeben hat, Schadensersatz nach Maßgabe des nationalen Rechts verlangen. Im schlimmsten Fall müssten die Autokäufer sogar den Verlust der Zulassung fürchten.
Der Bundesgerichtshof schloss sich diesem Urteil an. "Dabei hatte der Bundesgerichtshof davon auszugehen, dass die jederzeitige Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs Geldwert hat. Deshalb erleidet der Käufer eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Unionsrechts versehen ist, stets einen Schaden, weil aufgrund einer drohenden Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung die Verfügbarkeit des Fahrzeugs in Frage steht. Zugunsten des Käufers greift der Erfahrungssatz, dass er im Falle der Ausstattung des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung das Fahrzeug nicht zu dem vereinbarten Preis gekauft hätte", heißt es hierzu im Pressetext des BGH.
Autohersteller in Beweispflicht, nicht vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt zu haben
Die Rechtsstreite wurden an die Vorinstanzen zurückgegeben. Sie sollen nun klären, ob die Autohersteller tatsächlich fahrlässig gehandelt haben - und welcher Schaden den Klägern entstanden ist. Stellt der Tatrichter das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung fest, muss der Fahrzeughersteller darlegen und beweisen, dass er bei der Ausgabe der Übereinstimmungsbescheinigung weder vorsätzlich gehandelt noch fahrlässig verkannt hat, dass das Kraftfahrzeug den unionsrechtlichen Vorgaben nicht entspricht. Dabei können die Hersteller versuchen, einen unvermeidbaren Verbotsirrtum geltend zu machen, der sie von der Haftung befreien würde. Dieser liegt immer dann vor, wenn die Hersteller auch bei äußerster Gewissensanspannung nicht hätten erkennen können, dass sie unrechtmäßig handeln.
Klagen können nun auch die Käufer von Automodellen, die nicht unmittelbar vom Dieselgate-Skandal betroffen waren, aber ein entsprechendes Thermofenster verwenden. Das könnte zu vielen neuen Rechtsstreiten führen: und hohen Kosten für die Rechtsschutzversicherer. Ein Wermutstropfen aus Sicht der klagenden Autofahrer: Sie können keinen sogenannten großen Schadenersatz geltend machen, sofern kein vorsätzliches und sittenwidriges Handeln des Autobauers nachgewiesen werden kann. Das heißt, sie können nicht darauf bestehen, dass der Kauf rückabgewickelt wird. Stattdessen stehen ihnen fünf bis 15 Prozent des Kaufpreises als Schadenersatz zu. Das Auto dürfen sie aber behalten.