Die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung hat kein Einnahmeproblem, sondern ein Ausgabenproblem. Das sagt der Wirtschaftsweise Martin Werding in einem Interview mit dem PKV-Verband. Als Möglichkeit, Kosten einzusparen, nennt er eine höhere Effizienz der Ausgaben.
Die gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherer sind klamm, auch im nächsten Jahr erwartet der GKV-Spitzenverband einen Fehlbetrag von 3,5 bis 7 Milliarden Euro. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat am Mittwoch in einem Interview mit RP Online mittelfristig höhere Steuerzuschüsse für die Kranken- und Pflegeversicherung gefordert. Auch würden die Zusatzbeiträge 2024 erneut moderat steigen müssen. Nach Einschätzung des Wirtschaftsweisen Martin Werding liegt das Problem aber weniger auf der Einnahme- als der Ausgabeseite, wie er in einem Interview deutlich macht, das der PKV-Verband auf seiner Webseite veröffentlicht hat.
Bereits im März hatte Werding in einem Handelsblatt-Interview gewarnt, dass die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen vor „historischen Beitragserhöhungen“ stünden. Dies erneuert er nun. „Wir haben in beiden Versicherungen eine wachsende Zahl von Leistungsbeziehern oder Personen, die hohe Leistungen beanspruchen, und eine schrumpfende Zahl von Beitragszahlern. In einem Umlagesystem wie unserem müssen dann die Beitragssätze steigen. Sie waren zuletzt schon in der Summe über alle Sozialversicherungen hinweg bei 40 Prozent – und es ist eine Frage der Zeit, bis sie bei 44, 46 und 48 Prozent liegen“, sagt der Ökonom.
Arbeitsmarkt gerät durch steigende Lohnnebenkosten unter Druck
Der Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge setze aber den Arbeitsmarkt unter Druck, argumentiert Werding, denn steigende Lohnnebenkosten würden Investitionen gefährden und auch die Zuwanderung unattraktiver machen: Stichwort Fachkräftemangel. Zudem seien hohe Beitragssätze schlicht ungerecht gegenüber jüngeren Generationen, da die laufenden Einnahmen die laufenden Ausgaben decken müssten. Und diese Ausgaben steigen mit dem Alter in der Nacherwerbsphase stark an. „Wir belasten zukünftige Generationen viel stärker - gleichzeitig erhalten sie später längst nicht die gleichen Leistungen“, sagt Werding. Die Beschäftigten müssten sogar damit rechnen, dass aufgrund der höheren Lohnnebenkosten Arbeitsplätze wegfielen, weil sie sich negativ auf den Wirtschaftsstandort auswirken.
Mehr Steuermittel seien hier als Instrument nicht geeignet, um den Anstieg der Beiträge aufzufangen, argumentiert Werding weiter anhand eigener Berechnungen. „Wenn wir die Beitragssatzsteigerungen vermeiden wollten, die sich aus demografischen Gründen abzeichnen, bräuchten wir zig Milliarden im Jahr. Nicht im ersten Jahr, aber nach 5, nach 10, nach 15 Jahren. Denn dieser demografische Alterungsprozess entfaltet sich über 15 Jahre – und wird sich nicht zurückbilden“, so der Ökonom. Die Situation bleibe also auf Dauer schwierig. „Die Lücke können wir nicht mit Steuermitteln stopfen, das geht einfach nicht“. Grundsätzlich bräuchten Sozialversicherungssysteme Steuermittel eigentlich nur in dem Maße, wie sie Zusatzaufgaben erfüllen, also für die sogenannten versicherungsfremden Leistungen. Darüber was darunter falle, werde laufend diskutiert - etwa, ob der Bund zum Beispiel Leistungen für Empfänger von Bürgergeld übernehmen solle. Aber diese Kosten seien nicht vergleichbar mit den Kosten des demographischen Alterungsprozesses.
"Einnahmesituation genau genommen gar nicht schlecht"
Entsprechend brauche es auch nicht mehr Geld im System. „Verglichen mit früheren Jahren ist die Einnahmesituation genaugenommen gar nicht schlecht. Die Arbeitsmärkte laufen unmittelbar nach der Krise relativ gut. Die Inflation lässt die Löhne relativ stark steigen, das erhöht auch die Einnahmen“, so Werding. Er mahnt: „Gerade im Bereich der Krankenversicherung ist völlig klar: Das Problem ist eher auf der Ausgabenseite. Alles, was man jetzt tut, um die Einnahmen zu verbessern, hat immer nur einen sehr begrenzten zeitlichen Effekt“. Mehr Einnahmen würden im Grunde nur die Begehrlichkeit nach noch mehr Einnahmen wecken. „Wir müssen über die Ausgaben, wir müssen über die Effizienz der Ausgaben reden“, appelliert der Philosoph und Volkswirtschaftler.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat aber bereits mehrfach deutlich gemacht, dass er keine Leistungen für Kassenpatienten streichen will. Effizienzgewinne verspricht er sich unter anderem durch eine Krankenhausreform und durch die Digitalisierung, etwa die elektronische Patientenakte.
Auch Martin Werding nennt im Interview mit dem PKV-Verband selbst keine Ansätze, wie Kosten eingespart werden können. Bereits in seinem früheren Interview mit dem „Handelsblatt“ hatte Werding allerdings eine Kürzungsdebatte und eine „ernst zu nehmende Finanzreform in der GKV“ gefordert. Aus Sicht von Werding wird an „vielen Stellen im Gesundheitswesen Geld verschwendet“. Im internationalen Vergleich gebe es in Deutschland beispielsweise zu viele Arztbesuche und Krankenhausbehandlungen, sagte Werding vor fünf Monaten. Es fehle an Anreizen für eine kostengünstigere Versorgung. Denkbar seien zum Beispiel GKV-Wahltarife, die mit einem niedrigeren Zusatzbeitrag verbunden sind: „Wer bereit ist, einen Facharzt nur mit einer Überweisung vom Hausarzt zu besuchen, könnte im Gegenzug geringere Beiträge zahlen“.