Die Versicherungsbranche hat inzwischen wichtige Grundlagen beim Thema Digitalisierung geschaffen. Dennoch wird erst die nächste Stufe der Digitalisierung darüber entscheiden, wer gewinnen wird. Warum die Transformation jetzt auf ein neues Level gehoben werden muss, erklärt Markus Zimmermann. Er leitet den Bereich Versicherungen bei dem Strategieberatungsunternehmen Accenture. In seiner Kolumne 'Zimmermanns Versicherungstrends' analysiert er Trends und zeigt auf, wie die Branche damit umgeht.
Während heute in vielen Debatten darüber diskutiert wird, inwiefern Technologien wie GenAI, Metaverse oder Cloud unsere Unternehmens- und Arbeitswelt massiv verändern, ist es keine zehn Jahre her, da wurde in vielen Versicherungshäusern erstmals die Rolle des „Chief Digital Officer“ (CDO) eingeführt. Das angestrebte Signal nach innen und außen war klar: Wir kümmern uns ab jetzt explizit auch um die Digitalisierungsthemen unserer Branche. So ganz eindeutig waren freilich Aufgabenstellung und Themen dieser neuen Rolle anfangs in der Regel noch nicht. Das Spektrum reichte von der Koordination digitaler Einzelinitiativen und Investments über Automatisierungs- und IT-Modernisierungsthemen bis hin zu Digitalisierungsstrategien und neuen digitalen Geschäftsmodellen. Schon damals bezeichnend waren die Diskussionen, ob der CDO eigentlich in der IT oder im Business anzusiedeln ist – eine Frage des grundsätzlichen Verständnisses von Digitalisierung, die bis heute immer wieder für Diskussionen und Reibungsverluste sorgt.
Mittlerweile ist das Thema Digitalisierung nicht mehr eine separate Aufgabe in expliziter Rolle sondern Bestandteil der strategischen Agenda in jedem Ressort – auf Fachseite ebenso wie in der IT. Die Rolle des CDO hat sich damit sukzessive gewandelt und wird heute in vielen Häusern verstärkt in Richtung „Chief Transformation Officer“ gelebt. Die Digitalisierungs-Agenda ist dadurch aber in keinster Weise erledigt, im Gegenteil: Durch den immer schnelleren technologischen Fortschritt beispielsweise in digitalen Lebens- und Arbeitswelten, durch Data Analytics, AI und GenAI oder ebenso auf Basis von Cloud und Quantencomputing entstehen kontinuierlich neue, teils revolutionäre Möglichkeiten für die Versicherungsindustrie entlang ihrer gesamten Wertschöpfungskette. Wenig erstaunlich daher, dass in der jüngsten Accenture-Umfrage „Pulse of Chance“ eines der Prio-1 Anliegen der weltweiten Versicherungswirtschaft für 2024 lautet, Technologiefortschritt und Innovationen wie AI effektiver und effizienter als bislang zu nutzen. Was braucht es also, um die wesentlichen und differenzierenden Bausteine im Kontext der beschleunigten Digitalisierung künftig konsequenter und besser einzusetzen?
Verstehen und priorisieren – bei immer schnellerem technologischem Fortschritt
Auch wenn es nach einer Binsenweisheit klingt: Der erste und wichtigste Schritt bei allen Innovationen rund um Digitalisierung, Data und AI ist zunächst ein umfassendes Verständnis. Das beginnt mit dem Verstehen der eigentlichen technologischen Innovation, muss aber unmittelbar verknüpft werden mit der Frage nach dem Mehrwert und den Einsatzmöglichkeiten entlang des Geschäfts- und Betriebsmodells eines Versicherers – vereinfacht gesagt: Welches Problem will ich eigentlich lösen, und welchen Wertbeitrag kann die digitale Innovation dabei konkret liefern? Nicht wenige Versicherer haben in den vergangenen Jahren die (oft mühsame und teure) Erfahrung gemacht, dass sich große technologische Investitionen in digitale Plattformen, Data/AI Tools oder Cloud nur dann lohnen, wenn damit von Anfang an klare Business Ziele sowie konkreter Mehrwert für Kunden und Versicherer verbunden sind. Die reine Begeisterung über die neuen digitalen Möglichkeiten oder ein use-case-basiertes Herangehen über mehrere Jahre reichen alleine nicht aus.
Umso wichtiger wird es daher, die eigenen Business Ziele und die fortschreitenden Möglichkeiten der digitalen Revolution konkret übereinanderzulegen und bewusst langfristige Prioritäten abzuleiten. Typische Beispiele hierfür sind die beschleunigte Digitalisierung der Kundenschnittstellen in Vertrieb und Service, die Revolution von Kundenmanagement, Verkauf und Produktentwicklung durch Data und AI, die Disruption bisheriger Betriebsmodelle durch intelligente Automatisierung und GenAI, die Forcierung von Ökosystemlösungen über digitale Plattformen und Kooperationen oder die Schaffung grundlegender Voraussetzungen in IT und Data Management durch die Cloud. Fach- und IT-Seite sind stärker als je zuvor gemeinsam gefordert, in einem integrierten Ansatz den Mehrwert digitaler Innovationen zu verstehen und zu bewerten, um daraus die Prioritäten für die Agenda der kommenden Jahre abzuleiten.
Fähigkeiten schaffen und weiterentwickeln – weit über Technologieskills hinaus
Die größte Herausforderung für die nächste Stufe der digitalen Transformation liegt zweifelsohne in der Etablierung und kontinuierlichen Weiterentwicklung der notwendigen Fähigkeiten in einem Versicherungsunternehmen. Die vergangenen zehn Jahre waren vor allem davon geprägt, digitales Knowhow und digitales Mindset an expliziten Stellen der Organisation aufzubauen – häufig fokussiert auf IT-Infrastruktur, Plattformthemen sowie Kundendatenmanagement, Digitalvertrieb und Operations. In den kommenden Jahren wird es darauf ankommen, die fortschreitenden Möglichkeiten aus Digitalisierung, Data und AI in allen Bereichen eines Versicherungsunternehmens zu adressieren: Von flexibler Cloud-Architektur über intelligent aufgestellte Operations- und Schadenprozesse mit digital unterstützter Customer Experience und datengetriebenem Underwriting bis hin zu digitaler Produkt- und Serviceentwicklung sowie Plattformgeschäft in Kooperation mit unterschiedlichsten Partnern.
Der Kampf und Talente mit den dafür notwendigen Skills in Digital, Data, AI und Cloud wird sich – über alle Industrien hinweg – in den kommenden Jahren noch weiter verschärfen. Versicherer müssen es daher schaffen, neben der Rekrutierung neuer Talente auch die eigene Belegschaft bestmöglich weiterzuentwickeln und stärker in Richtung digitale Skills uns digitales Mindset zu bringen. Ein Beispiel: Laut der aktuellen Umfrage haben hochrangige Führungskräfte aus der Versicherungsindustrie Bedenken, dass ihre Mitarbeitenden häufig eher zögern, was bspw. die Adaption von GenAI angeht. Hauptgründe dafür sollen das Vorurteil des Jobverlusts durch AI (33 Prozent) und die Zeit, die es benötigt, um entsprechende Skills aufzubauen (40 Prozent), sein.
Auf den ersten Blick erscheinen die Skill-Voraussetzungen auf der Technologieseite besser als auf der Fachseite. Allerdings sind große Teile der IT-Teams in den kommenden Jahren mit dem Betrieb und der Ablösungsvorbereitung alter Systemlandschaften gebunden, so dass für die „neuen“ Tech-Themen oft zu wenig an Fokus und Kapazität übrig bleibt. Daher muss es im IT-Recruiting und Skillmanagement der Versicherer in den kommenden Jahren eine klare Prioriät für neue Fähigkeiten rund um Innovationsthemen wie Cloud, Data und AI geben. Die IT-Budgets und -Planungen dürfen nicht alleine von den Herausforderungen der „alten Welt“ dominiert werden, sondern müssen sukzessive die neuen digitalen Themen in den Vordergrund rücken.
Auf der Fachseite geht es in den kommenden Jahren darum, ein zunehmend integriertes Verständnis von den jeweiligen Businessthemen und deren technologischen Enablern zu schaffen. Auch hier braucht es einen Mix von externen Profilen mit digitalem Mindset und relevanten Skills, beispielsweise für digitale Produkt- und Plattformlösungen, datengetriebene Multikanalmodelle oder AI-gestützte Operations. Zugleich geht es aber auch um ein gezieltes Upskilling der vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, deren fachliche Tiefe und funktionale Kompetenz auch künftig dringend gebraucht wird, um die „richtigen“ digitalen und datengetriebenen Antworten geben zu können. Eine Chance für die Versicherungsbranche: gerade jüngeren Talenten und Managern auf den mittleren Ebenen spannende Entwicklungspfade für ihre weitere Karriere ermöglichen.
Nächste Stufe der Digitalisierung – jetzt entscheidet sich wer gewinnen wird
Zugegeben: Die Versicherungsbranche hat in den vergangenen zehn Jahren beim Thema Digitalisierung wichtige Grundlagen gelegt und ist in einigen Bereichen bereits ordentlich vorangekommen – auch und gerade durch die Anforderungen der Corona-Jahre. Die volle Power der digitalen Transformation ist bislang aber noch nicht wirklich angekommen. Die größten Hürden ergeben sich immer noch durch mangelnde Business Perspektive und unklaren Business Value, durch zu geringen Aufbau relevanter Skills und durch einen zu einseitigen Fokus auf IT-Legacythemen.
Aufgrund rasanter technologischer Fortschritte und immer größeren Einsatzfeldern entlang der gesamten Versicherungswertschöpfung braucht es einen neuen Ansatz – mit mehr Fokus und mehr Beschleunigung der digitalen Transformation eines Versicherungsunternehmens als jemals zuvor. Das bedeutet einerseits einen Investitionsfokus auf die Skillentwicklung der Mitarbeitenden ebenso wie bei der zukunftsorientierteren Transformation der technologischen Basis. Andererseits braucht es neue Modelle der crossfunktionalen Zusammenarbeit zwischen Business und IT/Data, um gemeinsam die relevanten Business Values zu heben. Nur wer diese Themen über die kommenden Jahre ernsthaft anpackt und sein Geschäft- und Betriebsmodell mit digitalem Mehrwert transformiert, wird am Versicherungsmarkt zu den Gewinnern von morgen gehören.