'Ökosysteme' von Versicherern gewinnen an Relevanz, meint Markus Zimmermann. Er leitet den Bereich Versicherungen bei dem Strategieberatungsunternehmen Accenture. In seiner Kolumne 'Zimmermanns Versicherungstrends' analysiert er Trends und zeigt auf, wie die Branche damit umgeht.
Kundenbedürfnisse und Kundenerwartungen zu verstehen und richtig einzuordnen, ist in jeder Industrie zwingende Basis für erfolgreiche Geschäftsmodelle. Auch in der Versicherungswirtschaft wird das Thema Kundenorientierung daher seit Jahren konsequent vorangetrieben, um Produktgestaltung, Prozessdesign und Service-Journeys konsequent an den Kundenerwartungen auszurichten. Was also treibt die Kund:innen aktuell um, wenn sie an das Thema Versicherung denken? Dieser Frage geht auch die aktuelle Global Insurance Consumer Study 2023 von Accenture nach, die jährlich das Kundenverhalten und deren Erwartungen im Privatkundensegment global untersucht.
Wesentliche Absicherungsbedarfe der Kunden werden nur teilweise abgedeckt
Unabhängig vom heutigen Produktspektrum der Versicherungswirtschaft sehen die deutschen Privatkund:innen ihre größten Absicherungsbedarfe aktuell in den fünf Risikofeldern „Steigende Lebenshaltungskosten“, „Klimawandel“, „Sinkendes Einkommen“, „Soziale Ungleichheit“ sowie „Körperliche Gesundheit“. Zwischen 35 und 60 Prozent der Befragten fühlen sich in diesen Themen aktuell nicht ausreichend abgesichert. Umgekehrt verhält es sich bei klassischen Versicherungsthemen wie „Sachschäden“ oder „Altersvorsorge“: Diese Risikofelder werden mit deutlich geringerer Priorität wahrgenommen, und rund 90 Prozent der Befragten sind mit ihrer derzeitigen Absicherung zufrieden.
Demnach gibt es hier einige Felder mit klarem Wachstumspotenzial für die Versicherungsbranche. Auch wenn es nicht für jedes der genannte Top-5 Risiken allumfassenden Versicherungsschutz geben kann, wie etwa beim Thema Klimawandel, oder die versicherungstechnische Abbildung beispielsweise beim Einkommensschutz nur innerhalb bestimmter Grenzen möglich sein wird – die Versicherer sollten diese Chancen nutzen und ihr Produktspektrum bewusster und erkennbarer in Richtung der prioritären Risikobedarfe ihrer Kunden:innen weiterentwickeln. Denkbar sind sowohl neuartige Produktkonzepte als auch innovative Erweiterungen bestehender Produktkonzepte in der Risiko-Leben, Kranken- oder Sachversicherung.
Die Erwartungen an ganzheitliche Serviceleistungen werden immer größer und wichtiger
Die Versicherer arbeiten seit vielen Jahren am Ausbau ihrer Serviceangebote – und aus Kundensicht ist dieser Entwicklungsprozess noch lange nicht am Ende. Quer über alle Lebensbereiche erwarten die Kund:innen einfache und integrierte Schutz- und Service-Journeys. Das höchste Interesse besteht unverändert in den Bereichen Gesundheit und Pflege. So haben 63 Prozent der Verbraucher:innen in Deutschland Interesse an ganzheitlichen Paketen, in denen z.B. Krankenversicherung, Fitnessstudio, Gesundheitsberatungen, Buchung von Arztterminen oder die Finanzierung von Fitnessgeräten für zuhause gebündelt wird. Noch höher ist das Interesse im Bereich Pflege: Zwei Drittel der Verbraucher:innen haben Interesse an Unterstützungsleistungen für ältere Menschen, beispielsweise zur Erleichterung der häuslichen Pflege. Dies wird besonders für die mittlere und jüngere Generation relevant, da sich diese einer immer komplexeren Pflegelandschaft stellen müssen, um für ihre Eltern oder Angehörige zu sorgen. Überraschende Erkenntnis am Rande: Weltweit ist das Interesse an integrierten Gesundheits- und Pflegeservices des Versicherers mit fast drei Viertel der Befragten sogar noch höher als in Deutschland. Etwas niedriger aber immer noch sehr relevant sind die Erwartungen der Verbraucher:innen an ganzheitlichen Leistungen des Versicherers rund um Zuhause und Mobilität. So haben mehr als die Hälfte der Befragten Interesse an ganzheitlichen Leistungen rund um den Hauskauf, einschließlich Hypotheken, Hausratversicherung und Umzugsservice. 59 Prozent sind interessiert an Monitoring Services für Zuhause einschließlich Einbruchschutz und Energieverbrauch. Und 63 Prozent haben Interesse an vollumfassenden Fahrzeug-Servicepaketen, die Versicherung, Finanzierung, Wartung oder auch das Laden von Elektrofahrzeugen abdecken.
Die seit vielen Jahren diskutierte Relevanz von „Ökosystem-Lösungen“ scheint also weiter an Traktion zu gewinnen. Die Versicherer müssen darauf noch konsequenter als bislang reagieren – vom Denken in industrieübergreifenden Journeys und integrierten Versicherungsangeboten über umfassende Servicepartnerschaften bis hin zur technologischen Anschlussfähigkeit und Flexibilität für Ökosystem-Partner und Plattformen.
Verbraucher teilen bereitwilliger Daten – für entsprechende Gegenleistungen
Ob individuell zugeschnittene Risikoabsicherungen oder durchgängige Serviceerlebnisse – Veränderungen dieser Art funktionieren natürlich umso besser, wenn die Prozesse dahinter auf alle erforderlichen Daten und Informationen zugreifen können. Die gute Nachricht: Kund:innen sind zunehmend bereit, ihre Daten mit dem Versicherer umfassender als bislang zu teilen. Die Kehrseite der Medaille: Sie wollen dafür verständlicherweise spürbare Vorteile erhalten – sei es beim Leistungs- und Serviceumfang, bei der Geschwindigkeit oder beim Preis.
Nach den Banken sind die Versicherer auf einem sehr guten zweiten Platz, wenn es um das Vertrauen der Kund:innen geht, und darum, inwieweit sie bereit sind, persönliche Daten mit einem Unternehmen zu teilen. Die Versicherer liegen sogar gleichauf mit den Banken, wenn man nur auf das Vertrauen der Gen Y und Gen Z schaut. Für die Versicherungsbranche also ein Signal und Anreiz, ihre Produkte und Services deutlich stärker datengetrieben und datenoptimiert zu gestalten.
So sind 86 Prozent der Befragten in Deutschland bereit zur Teilung von Daten, wenn dadurch schnellere, priorisierte oder einfachere Services möglich werden. Bei Preisvorteilen durch Datenteilung zeigen 80 Prozent starkes Interesse, und bei personalisierten Services zur Risikoverringerung sogar 83 Prozent. Gut drei Viertel wollen ihre Daten auch für Rabatte auf nicht versicherungsbezogene Produkte oder Services teilen. Während es rund um Services und Prävention also sehr hohe Bereitschaftswerte zur Datenteilung gibt, wird Datenweitergabe im vertrieblichen Umfeld noch deutlich skeptischer gesehen: Nur knapp die Hälfte der Befragten will Daten teilen, um eine individuellere Beratung mit Fokus auf die persönliche Situation zu erhalten. Gerade in diesem Feld gilt es, als Versicherungswirtschaft Vertrauen auszubauen und die Chance/Risiko-Abwägung auf Kundenseite positiv zu verändern.
Versicherer sollten klare Potenziale nicht ungenutzt lassen
Insgesamt also eine Reihe guter Nachrichten für die Versicherungsbranche: Die Kund:innen sehen wichtige Risikofelder, in denen sie mehr Absicherung als bisher von ihrem Versicherer wollen. Der Wunsch nach integrierten Schutz- und Serviceleistungen durch den Versicherer nimmt weiter zu. Und die grundsätzliche Bereitschaft zum Teilen von Daten mit dem Versicherer wird umso größer, je spürbarer die Vorteile datengetriebener Produkte und Services bei den Kund:innen ankommen. Klare Potenziale für die Versicherungswirtschaft, die auch kurzfristig für Wachstumsimpulse sorgen können.