Versicherer müssen 2024 die 'nächste Evolutionsstufe' erklimmen, meint Markus Zimmermann (Accenture). In seiner neuen Kolumne erklärt er, was genau er darunter versteht.
Nach der beschleunigten Digitalisierung der vergangenen (Corona-)Jahre schien das Veränderungstempo in der Versicherungsindustrie in 2023 zunächst wieder etwas abzunehmen. Doch die Veränderungsimpulse haben nicht lange auf sich warten lassen: Allen voran steht dabei natürlich Generative künstliche Intelligenz (GenAI) mit all ihren neuen Möglichkeiten, daneben aber auch unverändert Themen wie Kundenbindung, Ökosysteme, Zinsentwicklung oder Kostenmanagement. Was bedeutet das also für die strategische Agenda der deutschen Versicherer in 2024?
GenAI – Vom Use Case Hype zur umfassenden Transformation
GenAI ist mittlerweile in allen Industrien als einer der größten und relevantesten Trends für die kommenden Jahre angekommen. Zum Einsatz kommt die Technologie derzeit aber vor allem noch in Form von isolierten Use Cases. Nun heißt es, die gesammelten Informationen und Praxiserfahrungen zu nutzen, um vom Hype um Use Cases zu einer nachhaltigen Transformation zu gelangen. Denn die Versicherungsindustrie hatte sich in den vergangenen Jahren bereits einen größeren Mehrwert von Data und AI versprochen. Oftmals konnten sie diesen aber nur mit viel Aufwand und auf Basis individueller Use Cases erzielen.
GenAI bietet nun die Chance, den Schritt von kleinteiligen Anwendungsfällen hin zu einer von Business und Technologie getriebenen, umfassenden Transformation zu machen. Diese beinhaltet ein echtes Neudenken der Prozesse, Rollen und Organisation eines Versicherers, vom Verkauf über Underwriting bis hin zu Kundenservice und Schaden – aber auch in den Zentralfunktionen wie Finance, HR oder Einkauf: Welche Tätigkeiten oder Entscheidungen kann AI vollständig bzw. teilweise übernehmen? Welche können AI-basiert unterstützt werden? Wie lassen sich dadurch Vorteile bei Kundenorientierung, Schnelligkeit und Qualität realisieren? Welche Skills sind künftig besonders relevant und wie können Versicherer dem zunehmenden Fachkräftemangel sowohl in Business- als auch in IT-Funktionen mit GenAI begegnen? Fragen wie diese müssen entlang der gesamten Wertschöpfungskette eines Versicherers konsequent beantwortet werden, um auch künftig im Wettbewerb bestehen zu können. Sicherlich können in den kommenden Monaten nicht alle Fragen umgehend beantwortet werden aber 2024 muss das Jahr werden, in dem die Transformationsreise über die Use Cases hinaus beginnt.
Kundeninteraktion – Datengetrieben zu integrierten Service-Journeys und echtem Omnichannel
Die Nachfrage der Kundinnen und Kunden nach integrierten Produkten, Prozessen und Services steigt kontinuierlich. Die konsequent durchgängige Nutzung von Daten und die technische Vernetzung von Angeboten oder Serviceplattformen ermöglicht einen echten Sprung nach vorne, was integrierte Customer Journeys und ein echtes Omnichannel-Erlebnis betrifft. Dies beinhaltet beispielsweise die Bespielung der Kundenschnittstelle während der Anbahnungs- und Verkaufsphase, in der sämtliche Kanäle und Touchpoints mit voll synchronisierten Daten und AI-Assistenz arbeiten. Ähnlich verhält es sich bei Antragsprozessen, Underwriting oder Vertragsverwaltung, im Zuge derer nicht nur eine umfassende Bereitstellung relevanter Daten und Informationen vorliegen, sondern auch ein AI-basierter Entscheidungsvorschlag. Diesen können Versicherer dann entweder automatisert oder als Basis für die persönliche Expertenentscheidung verwendet. Im Schadenprozess wiederum lassen sich zusätzlich relevante Services zielgenauer und effizienzter als je zuvor in die Kundenreise integrieren.
Neben der Transformation der Kernprozesse hin zu durchgängigen Journeys wird die Bedeutung von integrierten Services in den Lebenswelten der Kundinnen und Kunden noch weiter steigen. Versicherer haben in den vergangenen Jahren in unterschiedlichster Form versucht, sich in den dafür relevanten Ökosystemen und Plattformen zu positionieren – oft verbunden mit hohen Ambitionen zur eigenen Rolle und zum Wachstumspotenzial. Nach diesen Erfahrungen ist in jetzt mit einem weiteren Ausbau von Ökosystemabgeboten der Versicherungswirtschaft zu rechnen, jedoch mit klarem Fokus und gesundem Realismus. In manchen Lebenswelten wird ein Versicherer langfristig nicht über die Rolle des reinen Produkt-Zulieferers hinauskommen. In anderen Lebenswelten gibt es hingegen durchaus die Chance, als Versicherer zum Hauptakteur und Leistungs-Orchestrator des dazugehörigen Ökosystems zu werden, beispielsweise rund um Gesundheit und Pflege. Erfolgskritisch in jedem dieser Felder: Ein neues Denken in industrieübergreifenden Journeys und integrierten Versicherungsangeboten, umfassende Servicepartnerschaften und die technologische Anschlussfähigkeit sowie Flexibilität für Ökosystem-Partner und Plattformen.
New Work und Agilität – Ein neuer Standard für die Art und Weise wie wir arbeiten
Homeoffice, Video-Konferenzen, digitale Zusammenarbeit und vieles mehr hat unser Bild von „Arbeiten“ und „Führen“ in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Nachdem im letzten Jahr bereits einige Unternehmen wieder mehr Präsenz von ihren Mitarbeitenden im Büro erwarteten, wird sich in 2024 entscheiden, welche Formen von „Hybridmodellen“ zum neuen Standard werden. Klar ist, dass die Arbeitsmodelle mit 100 Prozent Firmenarbeitsplatz in der Versicherungsbranche weitgehend der Vergangenheit angehören. Das bedeutet deutlich veränderte Anforderungen an Führung und Zusammenarbeit.
Insbesondere die jüngere Generation erwartet neue und flexiblere Führungs- und Rollenmodelle, verbunden mit einem erlebbaren Kulturwandel weg von starrer Hierarchie hin zu Teamverantwortung, Partizipation und individuelleren Entwicklungspfaden. Ein mittlerweile weit verbreiteter Ansatz dafür ist das Thema Agilität: Versicherer überdenken ihre bisherigen rein funktionalen Silos und bringen crossfunktional alle Beteiligten eng zusammen, um an den großen Werttreiber-Themen ihres Unternehmens zu arbeiten. Oft verbunden sind damit auch neue Führungs- und Rollenmodelle, die weniger von Personalverantwortung und hierarchischem Denken geprägt sind und neue (agile) Zusammenarbeitsmodelle etablieren. Das Interesse der jüngeren Mitarbeiter ist an dieser Form von Aufgaben und Rollen oftmals deutlich höher als an den „klassischen“ Rollen. Angesichts des bereits spürbaren Fachkräftemangels und der neuen Skillbedarfe gerade im Bereich von Data & AI muss die Versicherungsindustrie solchen und ähnlichen Erwartungen der nächsten Mitarbeitenden-Generation noch bewusster begegnen.
Der „Digital Core“ – Basis für erfolgreiche Versicherung von morgen
Die Modernisierung von IT und Datenmanagement haben die Versicherer seit vielen Jahren auf ihrer Agenda. Worauf es jetzt ankommt, ist die Schaffung der technischen Voraussetzungen für die nächste Entwicklungsstufe von Customer Experience, Datenmanagement, Prozessautomatisierung und insbesondere AI. Statt traditionell-monolitischer Systemlösungen braucht es dafür eine modulare Business Plattform, die für Kernfunktionalitäten wie CRM, Produktmanagement, Underwriting, Operations, Schaden oder Regulatorik flexibel auf moderne modulare Lösungen zugreift und dadurch mehr Innovationskraft wie auch intelligente Automatisierung ermöglicht. An der Schnittstelle zu Kunden und Vertriebspartnern geht es um die Etablierung durchgängiger digitaler Journeys und die flexible Anbindungsfähigkeit von Ökosystempartnern über standardisierte digitale Schnittstellen.
Die technologische Basis für all diese Elemente des „Digital Core“ in Versicherung bilden typischerweise eine leistungsfähige Cloud Infrastruktur, holistisches Datenmanagement auf real-time Plattformen und – wichtiger denn je – die zentrale Bereitstellung aller funktionalen Fähigkeiten für Analytics, AI und Automatisierung.
Auch wenn noch nicht klar ist, wie Module und Partnersysteme am Ende im Detail aussehen werden: Eine modulare Architektur mit flexibler Business-Plattform und zentralen Fähigkeiten für Data & AI wird in den kommenden Jahren zur Grundvoraussetzung für erfolgreiche Player am Versicherungsmarkt. In 2024 steht für die meisten Versicherungshäuser zwingend die nächste Evolutionsstufe an.