Lebensversicherer sind von der BaFin aufgefordert, ihre Solvenzquoten zum 2. Quartal 2024 neu zu berechnen. Trotz strengerer Maßgaben reagiert die Branche gelassen: durch das gestiegene Zinsniveau hatten sich die Quoten zuletzt stark verbessert. Doch nicht alle Unternehmen können gelassen bleiben.
Das aufsichtsrechtliche Regime unter Solvency II wurde eingeführt, um sicherzustellen, dass Versicherer dauerhaft ihre Verpflichtungen gegenüber den Kunden erfüllen können. So mussten seit 2016 regelmäßig Berichte bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistung (BaFin) vorgelegt werden – sowohl Quartalsberichte (Quantitative Reporting Templates; QRT) als auch jährliche Berichte zur Solvabilität und Finanzlage (SFCR). Während Quartalsberichte standardisierte quantitative Daten zu verschiedenen Aspekten der Solvabilität abfragen, beinhalten die SFCR-Berichte Angaben zu den wichtigen Solvenzquoten.
Aktuell allerdings fordert die BaFin alle Lebensversicherer auf, für das kommende Quartal 2024 neue Berechnungen der Solvenzquoten anzustellen – dies berichten übereinstimmend sowohl der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft (GDV) als auch mehrere Fachmedien. Betroffen von der Vorgabe sind alle Lebensversicherer, die zur Berechnung ihrer Solvenzquoten die Übergangsmaßnahmen für versicherungstechnische Rückstellungen gemäß Paragraf 352 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) anwenden.
Die BaFin konnte bisher den Unternehmen die Genehmigung erteilen, Rückstellungen nicht sofort auf Grundlage von Solvency II zu bewerten, sondern mit mehrjähriger Verzögerung. Das Übergangsinstrument war die wirkungsvollste Hilfe, um Solvenzquoten um viele Prozentpunkte zu bessern. Aufgrund einer veränderten Zinssituation aber scheint das Mittel nun nicht mehr zeitgemäß.
War es das mit dem wirkungsvollen Rückstellungsterminal?
Zwar fehlen noch detaillierte Angaben, wie genau nun mit dem Hilfsinstrument verfahren wird. Allerdings deutet die Äußerung von GDV-Geschäftsführer Jörg Asmussen darauf hin, dass Übergangsmaßnahmen nach Paragraf 352 stark beschnitten werden. Denn Asmussen erwartet, dass sich „bereits in diesem Jahr der Betrag der Übergangsmaßnahme bei den allermeisten Unternehmen auf null oder nahe null reduzieren wird“, wie eine aktuelle Pressemitteilung des GDV verlautbart.
Allerdings scheint die Branche die Veränderungen gelassen hinzunehmen. Ergänzt Asmussen doch, der Sektor hätte „den Übergang zu Solvency II bereits zur Halbzeit gemeistert, planmäßig würden die Übergangsmaßnahmen erst 2032 auslaufen“: statt Protest also Verständnis auf Seiten des GDV.
Was das Rückstellungsterminal bisher leistet
Zur Erinnerung: Solvenz- bzw. SCR-Quoten sind aufsichtsrechtlich relevante Kennzahlen des Solvency II-Aufsichtsregimes: Sie entscheiden darüber, in welchem Maße die BaFin in den Geschäftsbetrieb der Versicherungen eingreifen darf. Für SCR-Quoten wird allerdings nicht das Verhältnis der Eigenmittel zu Verpflichtungen im „Normalbetrieb“ ermittelt. Stattdessen wird ein Extremereignis mathematisch simuliert, das einmal alle 200 Jahre auftritt. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Ereignis beträgt also 0,5 Prozent.
Mehrere Paragrafen des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) erleichterten bisher, die Solvenzquoten zu verbessern (und damit die aufsichtsrechtliche Hürde zu überwinden). Vorgesehen war, dass Versicherer diese Hilfen bis Ende 2031 nutzen können:
- So ermöglicht Paragraf 82 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) die Volatilitätsanpassung (VA): Anleihen dürfen höher bewertet werden, wenn sie nur vorübergehend an Wert verlieren – etwa, weil sie zu einem festen Wert später wieder verkauft werden.
- Paragraf 351 VAG ermöglicht eine Maßnahme für risikofreie Zinssätze: Versicherungsunternehmen dürfen eine vorübergehende Anpassung der maßgeblichen risikofreien Zinskurve vornehmen (der Anteil, für den dies möglich ist, sinkt schrittweise: In 2016 startete er mit 100 Prozent und liegt in 2032 bei null Prozent).
- Und Paragraf 352 VAG ermöglicht Übergangsmaßnahmen für versicherungstechnische Rückstellungen (Ü): Die BaFin kann Versicherern die Genehmigung erteilen, ihre Rückstellungen nicht sofort auf Grundlage von Solvency II zu bewerten, sondern erst nach und nach mit mehrjähriger Verzögerung.
Jene dritte Hilfe nach Paragraf 352 VAG, die nun beschnitten werden soll, war bisher die wirkungsvollste. Das zeigt ein Vergleich nach durchschnittlich verbesserten Prozentpunkten:
- Denn die Volatilitätsanpassung wird zwar häufig genutzt, erhöht die Solvenzquote der Branche jedoch aktuell nur um durchschnittlich 32,91 Prozentpunkte (wir berufen uns auf aktuelle Zahlen des Assekurata- Tickers) – die Basisquote der Branche ohne Maßnahmen (312,07 Prozent) wird durch die Volatilitätsanpassung auf 345,07 Prozent angehoben.
- Die Maßnahme für risikofreie Zinssätze hingegen spielt für die Branche bisher fast keine Rolle – sie wird bisher nur vereinzelt genutzt, in 2023 nur durch ein einziges Unternehmen.
- Es bleibt – als wirkungsvollste Übergangshilfe, just jene, die nun betroffen ist. Denn Übergangsmaßnahmen für versicherungstechnische Rückstellungen haben die durchschnittliche Basisquote plus VA noch mal um sagenhafte 253,03 Prozentpunkte angehoben.
Was aber bedeutet es, wenn nun die wirkungsvollste Hilfsmaßnahme beschnitten wird? Die größten Auswirkungen wird die Änderung auf jene Unternehmen haben mit großem "klassischen" Bestand – hier half Paragraf 352 VAG oft deutlich. Dennoch gibt es für einen Großteil der Branche keinen Grund zur Panik.
Was die Änderung für einzelne Unternehmen bedeuten könnte
Geht man von durchschnittlichen Zahlen der Branche aus, hat diese nichts zu befürchten. Zwar liegt die aufsichtliche Solvenzquote mit Volatilitätsanpassung und Übergangsmaßnahmen nach Stand 07/ 2024 bei durchschnittlich 598,10 Prozent, wohingegen die Basisquote ohne jede Hilfsmaßnahme bei nur 312,17 Prozent liegt. Dies bedeutet aber: Jeder Versicherer stemmt das zugrundeliegende Extrem-Szenario auch ohne Hilfen durchschnittlich drei Mal aus eigenen Mitteln (zu beachten ist: wir beziehen uns auf den kontinuierlich aktualisierten Solvenzquoten-Ticker von Assekurata mit Stand Juli 2024, wohingegen der GDV leicht abweichende Zahlen präsentiert).
Die „Hebel- Spitzenreiter“ haben keinen Grund zur Panik
Wie steht es nun um jene Unternehmen, die Übergangsmaßnahmen für versicherungstechnische Rückstellungen besonders stark zur Verbesserung ihrer Quoten nutzen? Auch hier gibt es keinen Grund zur Panik:
- So hebt zum Beispiel die Condor Leben ihre Quote durch Übergangsmaßnahmen nach Paragraf 352 VAG um 995,85 Prozentpunkte, allerdings liegt die Basisquote ohne Hilfen bei 395,38 Prozent (und damit über dem Branchenschnitt).
- Die R+V VVaG Leben hebelt ihre Quote durch Übergangsmaßnahmen nach Paragraf 352 VAG um 1038,64 Prozentpunkte, allerdings liegt die Basisquote ohne Hilfen bei 367,64 Prozent (und damit ebenfalls über dem Branchenschnitt).
- Die Signal Iduna Leben a.G. hebelt zwar durch Maßnahmen nach 352 VAG die Solvenzquote um hohe 1201,07 Prozentpunkte nach oben, die Basisquote ohne Maßnahmen liegt aber immer noch bei 190,61 Prozent (zwar unterhalb des Branchenschnitts, aber das Extremereignis würde fast zwei Mal durch Eigenmittel gestemmt).
Was hier bei den Spitzenreitern der Hebelwirkung (gemäß 352 VAG) anschaulich wird, trifft auf viele Versicherer zu: sie werden zwar Quoten vorweisen, die weniger beeindrucken. Aber dennoch erfüllen schon jetzt diese Quoten die aufsichtsrechtlichen Maßgaben von 2032 souverän.
Wer aktuell nur schwer über die aufsichtsrechtliche Hürde kommt oder diese reißt
Wer es mit der neuen Quotenregel hingegen schwer haben dürfte, das sind jene Unternehmen, die nach aktuellem Stand die aufsichtsrechtliche Hürde reißen oder nur mit Mühe erreichen. Betroffen ist:
- Die LVP Leben: Die LVP Leben weist aktuell die schlechtere Basisquote ohne Hilfsmaßnahmen aus: 13,77 Prozent. Damit verfehlt das Unternehmen die aufsichtliche Hürde deutlich. Mit VA kommt die LVP Leben aber ebenfalls nur auf 56,69 Prozent. Erst die Übergangsmaßnahmen nach 352 VAG – also jene, die nun anders gehandhabt werden sollen – sichern eine durchaus respektable Quote von 584,66 Prozent.
- Die Öffentliche Oldenburg Leben: Die Öffentliche Oldenburg weist aktuell eine Basisquote (ohne Hilfsmaßnahmen) von 49,15 Prozent aus. Die Volatilitätsanpassung (die auch nach 2032 noch zulässig ist) hebt die Quote auf 63,63 Prozent. Erst die Übergangsmaßnahmen nach 352 VAG sichern solide 342,12 Prozent.
- Die Athora Leben: Niedrige Quoten sind häufiger in der Vergangenheit Probleme auch der Run-off- Versicherer gewesen (Versicherungsbote berichtete). Die Athora hat eine Basisquote von 87,31 Prozent und hebt diese durch die Volatilitätsanpassung auf 96,88 Prozent. Erst die Übergangsmaßnahmen nach 352 VAG sichern sodann die solide Quote von 411,72 Prozent.
Solche Versicherer, die bisher nur durch Übergangsmaßnahmen nach Paragraf 352 VAG solide Quoten erzielten, könnten durch neue Anforderungen gestresst werden. Dies wird auch weitere Versicherer betreffen, falls das Zinsniveau wieder auffallend sinkt. Denn gerade bei knappen Zahlen entscheidet die Summe aus Basisquote und der (auch weiterhin möglichen) Volatilitätsanpassung über die „Manndeckung“ – kommt die Summe von Basisquote + VA nicht über 100 Prozent, müssen betroffene Unternehmen der BaFin eine Art Sanierungsplan vorlegen (und damit Rechenschaft über ihre Ausgaben ablegen). Eine regelmäßig aktualisierte Liste mit Solvenzquoten ist auf der Webseite der Experten von Assekurata verfügbar. Die aktuelle Pressemitteilung des GDV ist auf dem GDV-Portal zu finden.