Bundesbank-Präsident Joachim Nagel hält ein höheres Renteneintrittsalter für unausweichlich: Er spricht sich dafür aus, das Rentenalter an die steigende Lebenserwartung anzupassen. In einer alternden Gesellschaft sei es nicht möglich, ohne Veränderungen den Wohlstand zu erhalten. Auch der Fachkräftemangel treibt den obersten Währungshüter um: Allein bei der Bundesbank würden sich mittelfristig 40 Prozent in den Ruhestand verabschieden.
Joachim Nagel, Präsident der Bundesbank, hat sich in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ dafür ausgesprochen, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung anzupassen. "Das mag politisch unpopulär sein, aber ich glaube, an dieser Stelle sind Reformen unumgänglich“, sagte der Volkswirt dem Berliner Blatt. Die Bundesbank gehe davon aus, "dass wir in einer alternden Gesellschaft den Wohlstand nicht erhalten können, ohne Veränderungen vorzunehmen“.
Es sei angemessen, die steigende Lebenserwartung beim gesetzlichen Rentenalter grundsätzlich zu berücksichtigen, argumentiert Nagel weiter. Auf die Frage hin, ob die sogenannte Rente mit 63 ein Fehler gewesen sei, antwortete er diplomatisch: Sie fördere den vorzeitigen Renteneintritt. “Angesichts unserer demografischen Aussichten wäre es aber wichtig, Arbeitskräfte zu mobilisieren“, ergänzt der 58jährige. Allein in seinem Haus würden in den nächsten zehn bis zwölf Jahren "40 Prozent der Kolleginnen und Kollegen in den Ruhestand gehen“.
Doch Nagel will auch positive Anreize setzen, damit Rentnerinnen und Rentner weiter arbeiten. "Wir müssen grundsätzlich dafür sorgen, dass alle Menschen, die gerne arbeiten würden, auch arbeiten können.“ Dafür sei es notwendig, die Kinderbetreuung auszubauen und auch für Fachkräfte aus dem Ausland attraktiv zu bleiben: „Sonst werden wir die Fachkräftelücke nicht schließen können“. Gerade Frauen und ältere Beschäftigte reduzieren oft ihre Erwerbsarbeit, um Kinder oder pflegebedürftige Angehörige zu umsorgen. Im Jahr 2023 gingen laut Statistischem Bundesamt 67 Prozent aller Mütter mit mindestens einem Kind unter 18 Jahren einer Teilzeitbeschäftigung nach, aber nur neun Prozent aller Väter.
Auf die Zinsentscheidungen des EZB-Rats angesprochen, bekräftigte Joachim Nagel, dass die Zinserhöhungen zwischen Juli 2022 und September 2023 richtig gewesen seien. "Die Inflation geht zurück. Wir erwarten, dass sie spätestens Ende 2025 unseren Zielwert von zwei Prozent erreicht", so Nagel. Er betont, dass die Zinssenkung im Juni im Einklang mit dieser Entwicklung stand. Die drei Leitzinssätze wurden von der Europäischen Zentralbank (EZB) um jeweils 25 Basispunkte gesenkt. Zwar gebe es noch immer Güter und Dienstleistungen, deren Preise weiter deutlich steigen. Alles in allem sei die Inflation im Juni 2024 im Euroraum wie auch in Deutschland auf 2,5 Prozent gesunken, erläutert Nagel.
Mit Blick auf Deutschland gestand der Notenbankpräsident ein, dass es weiterhin Probleme gebe, etwa bei der Digitalisierung. Gleichzeitig warnte er davor, den Wirtschaftsstandort Deutschland schlechtzureden. "Manch einer sagt, Deutschland sei der kranke Mann Europas. Das ist falsch", betonte Nagel. Die Auftragslage der Industrie scheine sich zu stabilisieren, und auch der Konsum dürfte nach seiner Ansicht bald wieder anziehen. "Deutschland könnte eine gute Turnaround-Story werden, also eine Erfolgsgeschichte, wenn die strukturellen Probleme beherzt angegangen und gelöst werden", so Nagel.