Krankenkassen: "Leistungskürzungen sind leider Realität"

Quelle: Lopata / axentis.de

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat in seinem Sommerinterview Leistungskürzungen im Gesundheitssystem ausgeschlossen. Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), hält das jedoch für höchst zweifelhaft. Schon heute gebe es de facto solche Leistungskürzungen, argumentiert er, da Ärztinnen und Ärzte schlicht dazu gezwungen seien.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wurde im traditionellen Sommerinterview auch zu möglichen Reformen im Gesundheitssystem gefragt. Das ist wenig überraschend, denn ein Handeln ist hier dringend geboten. Die gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherer blicken auf ein Milliardenloch, die Rücklagen sind weitestgehend aufgebraucht. Kassenfunktionäre warnen, dass die Krankenversicherer ihren Zusatzbeitrag bald deutlich anheben müssen, um finanziell handlungsfähig zu bleiben. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) warnte vor einer drastischen Pleitewelle, wenn die Politik nicht tätig werde: Sie könne sogar die Versorgung gefährden. Mehr als drei Viertel (78 Prozent) der deutschen Kliniken rechnen mit einem negativen Jahresergebnis.

Scholz zu Leistungskürzungen: "Das ist eine schlechte Nummer"

Auf die Frage, wie auf derartige Probleme reagiert werden kann, nannte Olaf Scholz keine konkreten Details, sondern reagierte eher ausweichend. „Bei der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung müssen wir alles machen, was man an Effizienzge­winnung zustandebringen kann“, sagte er. Bedeutet: Hoffen auf die Effekte der Digitalisierung. Und soll auch die Bürokratie abgebaut werden? Seit Jahren beklagen Ärzteverbände, dass ihnen wegen der vielen administrativen Aufgaben und der ausufernden Dokumentation immer weniger Zeit für die Patienten bleibt.

Eines will Olaf Scholz aber auf keinen Fall: Leistungen kürzen. Diese kämen für ihn nicht infrage. „Das ist eine schlechte Nummer, mit der bin ich nicht einverstanden“, sagte er in dem Interview. Und provoziert damit eine Gegenreaktion mit dem Chef der Kassenärzte. Denn glaubt man der Argumentation von KBV-Chef Andreas Gassen, sind diese Leistungskürzungen längst unfreiwillige Realität.

“Wir begrüßen grundsätzlich die Ausführungen des Bundeskanzlers, nach denen Leistungskürzungen im Gesundheitswesen für ihn nicht infrage kommen. Die Realität sieht aber leider völlig anders aus“, sage Gassen laut einem Pressetext der KBV. Und weiter: „Trotz zahlreicher Ankündigungen von Bundesminister Lauterbach ersticken die Praxen der Niedergelassenen weiterhin in Bürokratie und werden finanziell unzureichend ausgestattet. Das Versprechen der Koalition, die Honorarbudgets abzuschaffen, ist noch immer nicht eingelöst. Für begrenztes Geld kann es nur begrenzte Leistungen geben – Leistungskürzungen werden somit unausweichlich sein.“

Budgets sind begrenzt

Was Gassen damit genau meint, wird im Pressetext nicht konkret ausgeführt. Aber es ist bekannt, dass viele Kassenärzte ihre Leistungen zum Quartalsende hin reduzieren müssen, weil die ärztlichen Leistungen unter anderem im Rahmen des sogenannten "Regelleistungsvolumens" (RLV) oder "Qualitätszielbudgets" (QZB) budgetiert sind. Wenn diese Budgets erschöpft sind, werden zusätzliche Leistungen schlechter vergütet oder gar nicht mehr bezahlt.

In diesem Sinne tragen auch Honorarbudgets dazu bei, dass zum Quartalsende hin die Kassenärzte ihre Leistungen oft einschränken müssen. Jede Kassenärztliche Vereinigung erhält ein Gesamtbudget von den Krankenkassen, das auf die einzelnen Praxen verteilt wird. Dieses Budget basiert auf der geschätzten Anzahl der zu erbringenden Leistungen und den vereinbarten Vergütungssätzen. Wenn eine Praxis am Ende eines Quartals bereits einen Großteil ihres Budgets ausgeschöpft hat, kann sie gezwungen sein, die Anzahl der Patienten oder die erbrachten Leistungen zu reduzieren, um finanzielle Einbußen zu vermeiden.

Doch die Rahmenbedingungen wirken sich nicht allein für die Patienten aus. Für Aufsehen sorgte Ende letzten Jahres eine Umfrage der KBV, an der sich 32.000 Ärzte und Psychotherapeuten beteiligt haben. Das Ergebnis: 61,9 Prozent fühlen sich durch die Arbeit ausgebrannt. 73,2 Prozent gaben an, dass ihnen für die Behandlung der Patienten nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht. Noch größer ist die Zustimmung zu der Aussage, dass die Bürokratie die Praxisarbeit eher behindert als unterstützt. Denn 90,6 Prozent beklagen die Vielzahl bürokratischer Aufgaben und fühlen sich dadurch überlastet.

"Bis heute hat der Kanzler bedauerlicherweise nicht auf einen Brief geantwortet, in dem wir ihn bereits im Oktober vorigen Jahres konkret auf die sich zuspitzende Lage des Gesundheitswesens hingewiesen hatten. Schon seinerzeit hatten wir an den Regierungschef appelliert, für den Erhalt der wohnortnahen Gesundheitsversorgung durch ärztliche und psychotherapeutische Praxen zu sorgen, um Leistungskürzungen zu verhindern", sagt nun Gassen.

Steigende Unzufriedenheit mit Gesundheitssystem

In einem weiteren Pressetext spricht der KBV-Chef die zunehmende Unzufriedenheit unter Kassenpatienten an. Eine repräsentative Allensbach-Umfrage zeige demnach, dass die Menschen immer unzufriedener mit der Gesundheitsversorgung werden. Innerhalb von nur zwei Jahren sei der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die noch mit dem Gesundheitssystem zufrieden sind, von 81 auf 67 Prozent zurückgegangen.

„Die aktuell stark wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit dem Gesundheitswesen ist für uns leider nicht überraschend. Seit Jahren warnen wir vor einem Kollaps und fordern mit konkreten und sinnvollen Maßnahmen die Rettung der Praxen. Doch in der Politik stoßen wir damit auf taube Ohren“, so Gassen.

Die geplanten Gesundheitsreformen werden laut dem Ärztefunktionär wenig an den unbefriedigenden Zuständen ändern. Geplant sind unter anderem Gesundheitskioske, die Patienten bei Beschwerden ansteuern sollen, statt in die überlasteten Notaufnahmen zu gehen. Doch Gassen kritisiert: „Die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Gesetze werden leider nicht die von Kanzler Scholz geforderte Effizienz im Gesundheitswesen bringen. Statt die ambulante Versorgung zu stärken, fließen wohl ungezielt weitere Milliarden in die Krankenhäuser. Die niedergelassenen Ärzte gehen finanziell leer aus und sollen zusätzlich in wenig frequentierten Notdienstpraxen arbeiten, anstatt Akutpatienten in ihren eigenen Praxen zu behandeln.“