Generative künstliche Intelligenz (GenAI) ist auch in der Versicherungsbranche angekommen. Doch wie reagieren die Mitarbeiter auf den 'digitalen Kollegen'? Und wie verschieben sich die Anforderungen, denen sie sich stellen müssen? Markus Zimmermann (Accenture) geht in seiner neuen Kolumne darauf ein, wie Versicherer dem Spannungsfeld zwischen neuen Möglichkeiten und persönlicher Sorge der Mitarbeiter am besten begegnen können.
Gut eineinhalb Jahre ist der vermeintlich plötzliche Aufstieg von generativer künstlicher Intelligenz (GenAI) jetzt her. Die „AI-Welle“ hat seit vielen Jahren sowohl die Arbeitswelt als auch unseren Alltag erfasst, und die AI-Revolution setzt sich durch GenAI weiter fort: Während AI vor allem darauf abzielt, vorhandene Daten zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, kann GenAI selbst neue Inhalte generieren. Wenngleich unter Expert:innen Unklarheit darüber besteht, wohin die Entwicklung genau führen wird, sind sich alle einig: Die Geschwindigkeit dieses technologischen Fortschritts sucht ihresgleichen.
Dieser Fortschritt ist auch im Versicherungssektor angekommen. Es entstehen kontinuierlich immer mehr konkrete Use Cases, in denen AI bzw. GenAI entlang der gesamten Wertschöpfungskette zum Einsatz kommt. Das betrifft beispielsweise die AI-gestützte Live-Erkennung und Klassifizierung von Kundenanliegen, AI-basiertes Pricing und Echtzeit-Produktauswahl, intelligent automatisierte Operations- und Schadenprozesse, AI-basierte Chat- und Voicebots und vieles mehr. Durch die eigenständige Generierung von Inhalt kann GenAI dabei zusätzlichen Wert liefern – sei es durch intelligente Assistenz für die Mitarbeitenden, indem Tätigkeiten teilweise übernommen werden, oder durch komplette Automatisierung von Geschäftsvorgängen.
Für die Mitarbeiterschaft ergeben sich daraus grundlegende Veränderungen, wie Arbeit künftig organisiert wird und welche Skills dafür besonders wichtig werden. Laut einer aktuellen Accenture Umfrage sehen 95 Prozent der Arbeitnehmer:innen grundsätzlich einen Nutzen in der Zusammenarbeit mit künstlicher Intelligenz. Gleichzeitig besteht ihre größte Sorge darin, dass Unternehmen nicht sämtliche positiven Auswirkungen durch die Implementierung realisieren können. Und natürlich gibt es an vielen Stellen Ängste, dass die eigene Tätigkeit über kurz oder lang durch GenAI ersetzt werden könnte. Wie kann man diesem Spannungsfeld zwischen neuen Möglichkeiten und persönlicher Sorge also am besten begegnen?
Transparenz – Sorgen ernst nehmen und Chancen klar aufzeigen
Der Einfluss von GenAI auf viele Prozesse, Arbeitsroutinen, Jobprofile und damit auf die gesamte Mitarbeiterschaft wird enorm sein. Je nach Anwendung wird die Technologie Prozesse als eigenständiger „digitaler Kollege“ vollständig übernehmen können oder als „digitaler Assistent“ den menschlichen Mitarbeitenden bei der täglichen Arbeit unterstützen. Wichtig ist daher eine transparente Kommunikation, in welchen Bereichen zu welchen Zwecken AI und GenAI eingesetzt werden. So können beispielsweise durch GenAI-gestützte Datenanalyse und Inhaltsvorbereitung viele „mühsame“ Vorarbeiten für Meetings, Kundenangebote oder Prozessschritte entfallen. Dies kann gleichermaßen positive Effekte auf Produktivität, Effizienz und Mitarbeiterzufriedenheit haben.
Durch GenAI ändern sich die Anforderungen an die Mitarbeitenden in vielen Dimensionen – allein das ruft zunächst oft Angst und Ablehnung hervor. Wichtig ist daher, die Mitarbeiterschaft konsequent auf die neuen Anforderungen vorzubereiten und die notwendigen Skillverschiebungen transparent zu machen. So bedarf es beispielsweise bei (Gen)AI-basierten Prozessautomatisierungen der Fähigkeit, Prozesse von Grund auf neu zu denken und nicht einfach Eins zu Eins mit GenAI abzubilden. Nur so kann das volle Potential der neuen Technologien ausgeschöpft werden. Auf diese Weise kann GenAI zum Katalysator für neue Kompetenzfelder und Jobprofile werden und sogar vollkommen neue Karrierewege schaffen.
Tatsächlich sind 94 Prozent der Befragten Arbeitnehmer:innen zuversichtlich, dass sie die erforderlichen Fähigkeiten entwickeln können. Gleichzeitig muss sich ein Versicherer überlegen, wie er frei gewordene Kapazitäten wertstiftend für sein Unternehmen nutzen kann. Richtig eingesetzt können Versicherer sich durch GenAI am Markt differenzieren und bereits relativ kurzfristig Wettbewerbsvorteile schaffen – beispielsweise durch fokussierten qualitativen Einsatz menschlicher Kundenkommunikation an den richtigen Stellen von Verkauf, Service und Schadenmanagement.
Enabling – Neue Fähigkeiten für das AI-Zeitalter fördern und kontinuierlich weiterentwickeln
Auch wenn gerade die fortschreitende Relevanz von GenAI dazu führt, dass teils umfangreiches Upskilling der Belegschaft notwendig ist, so kann gerade diese Technologie auch gleichzeitig bei der Bewältigung dieser Herausforderung unterstützen: Sei es durch Analyse des Skill-Gaps mittels AI, durch die gezielte Förderung durch GenAI-gestützte Lernplattformen oder durch GenAI Inhalte für die Personalentwicklung. Auch hier gibt es bereits Beispiele von GenAI-Anwendungsfällen bei Versicherern, die die Technologie zum Training ihrer Belegschaft nutzen. Dabei können die Mitarbeitenden die Trainingsangebote zum Upskilling teilweise sogar proaktiv nach individuellem Interesse personalisieren: In Simulationen von Kundeninteraktionen können Mitarbeitende beispielsweise Verkaufsgespräche mit Kund:innen trainieren, die besonders herausfordernde Bedürfnisse haben oder ambivalentes Verhalten zeigen. Zudem können sie datengetriebene Kundenansprache testen, etwa für Neuakquise oder effektives Cross- und Up-Selling.
Den richtigen Umgang mit der Technologie zu lernen, ist in allen Einsatzfeldern entlang der Versicherungswertschöpfungskette essenziell. Hierzu gehört auch ein gutes Maß an Wachsamkeit und Eigenverantwortung: Denn inkorrekte Inhalte können insbesondere zu Beginn bei stark individualisierten Modellen durchaus auftreten (passenderweise als „Halluzinationen“ bezeichnet). Um diese zu erkennen und zu korrigieren, ist Kontrolle durch den Menschen und letztlich die rasche Reaktion bei Notfällen unumgänglich. Eine entsprechende Trainingsumgebung hilft auch hier maßgeblich, das Verständnis der Mitarbeitenden zu den Besonderheiten von GenAI zu schärfen. Gleiches gilt übrigens für die ethischen Implikationen von GenAI, die proaktiv verstanden, bewertet und gemanagt werden müssen – zuallererst auf Unternehmensebene, aber natürlich auch im Verantwortungsverständnis der Mitarbeitenden.
Change – Den Wandel von Kultur und Mindset proaktiv vorantreiben
Die Einbettung der neuen Technologien in die Unternehmens-DNA wird sowohl die Kultur verändern als auch das Denken und Handeln der Belegschaft. Um hier eine Überforderung und/oder potenzielles Misstrauen der Mitarbeitenden zu verhindern, gilt es, prozessuale Bedürfnisse und Herausforderungen zu verstehen und Lösungen an den Stellen zu individualisieren, an denen es nötig ist. Ein entsprechendes Change Management ist bei diesem tiefgreifenden Wandel unabdingbar. Denn GenAI im Unternehmen zu implementieren bedeutet durch eine fundamentale Veränderung zu führen.
Neben den veränderten Skillanforderungen erfordert der zunehmende Einsatz von GenAI nämlich auch einen grundlegenden Wandel im Mindset. Das Zusammenspiel von „Mensch und Maschine“ wird künftig nicht die Ausnahme, sondern die Regel in unserem Arbeitsalltag werden. Dafür braucht es Offenheit im Umgang mit Technologien, ein neues Selbstverständnis von der Rolle und dem Mehrwert menschlicher Arbeit und ein Bewusstsein für die kontinuierliche Weiterentwicklung der eigenen Arbeitsumgebung und Aufgaben. Die Versicherer müssen darüber hinaus eine Atmosphäre schaffen, in der sowohl das Ausprobieren, aber auch das Scheitern gefördert wird. Am Ende geht es um Akzeptanz für neue Technologien wie GenAI und einen kulturellen Wandel hin zum datengetriebenen Unternehmen auf allen Ebenen. Entscheidend bei alldem ist, dass die Versicherer frühzeitig entsprechende Change Maßnahmen setzen und ihre Mitarbeiterschaft so mit auf die Reise nehmen.
Talente – Mitarbeiterzufriedenheit steigern und neue Profile gewinnen
Die „GenAI-Welle“ verändert letztlich nicht nur die Art der Arbeit, sondern den gesamten Arbeitsmarkt. Wird GenAI zielführend eingesetzt, kann es die Mitarbeiterzufriedenheit und -bindung spürbar steigern. Gleichzeitig lassen sich die Herausforderungen der Mitarbeiterdemografie und des Fachkräftemangels an vielen Stellen durch die Nutzung von GenAI erheblich abmildern. Und last but not least: Die Versicherungsbranche wird für viele junge Talente deutlich attraktiver. Einerseits durch neue Rollen rund um Tech, Data und AI, andererseits durch die Entlastung von operativ-repetitiven Arbeiten und dem viel stärkeren Fokus auf Kundeninteraktion, Produktinnovation und Serviceerlebnis.
Klar ist: Wer als Versicherer die Sorgen der Mitarbeitenden beim Thema (Gen)AI ernst nimmt, die Chancen und Ziele klar kommuniziert und den Wandel von Skill- und Mindset proaktiv unterstützt, wird schneller und effektiver als mancher Wettbewerber die Vorteile der neuen Technologien realisieren können. Denn GenAI funktioniert garantiert nicht gegen die Menschen, sondern nur zusammen mit den Menschen in einem Versicherungsunternehmen.