Wer vor Erreichen der Regelaltersgrenze in Rente geht, muss Abschläge in Kauf nehmen, es sei denn, er oder sie kann von Sonderregelungen Gebrauch machen. Der Wirtschaftsweise Martin Werding fordert nun, angesichts des drohenden Fachkräftemangels diese Abschläge zu erhöhen und die „Rente mit 63“ abzuschaffen.
Der Ökonom Martin Werding zählt zu jenen Stimmen, die regelmäßig Reformen bei der gesetzlichen Rente anmahnen und dabei auch schärfere Töne anschlagen. Das geplante Rentenreform der Bundesregierung sei eine „Klientelpolitik zugunsten der Alten“, sagte er zum Beispiel vor einem Jahr. Er wies darauf hin, dass die schrumpfende Zahl an Erwerbstätigen in den kommenden Jahren mit steigenden Rentenbeiträgen belastet wird und gleichzeitig immer mehr Steuerzuschüsse in die Rentenversicherung fließen. Dies führe dazu, dass sich Arbeit verteuere und notwendige Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung oder Sicherheit zu kurz kommen. Für die Volkswirtschaft und kommende Generationen könne das dramatische Konsequenzen haben.
Nun meldet sich Werding wieder zu Wort: und fordert Korrekturen mit Blick auf abschlagsfreie Frührenten. Die Freiheit, dass Arbeitnehmer ab 63 Jahren mit Abschlägen in Rente zu gehen, sei zwar in Ordnung, sagte Werding der Funke Mediengruppe. „Abschläge von 3,6 Prozent pro Jahr sind dafür aber zu niedrig. Stattdessen müssten es 5 bis 6 Prozent sein“. Derzeit gilt: Für jedes Jahr, das man vor der Regelaltersgrenze in Rente geht, wird eine Kürzung von 0,3 Prozent des Rentenanspruchs pro Monat vorgenommen. Das entspricht 3,6 Prozent pro Jahr. Der maximale Abschlag liegt dementsprechend bei 14,4 Prozent.
Abschlagsfreie Frührenten "passen nicht in die Landschaft"
Gänzlich abschlagsfreie Frührenten für Personen, die gesund sind und normal bis überdurchschnittlich verdienen, passen „angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels überhaupt nicht in die Landschaft“, argumentiert Werding. Er stellt damit die sogenannte Rente mit 63 infrage, die es Personen erlaubt, bei mindestens 45 Jahren Versicherungszeit ohne Abschläge in Rente zu gehen. Der Begriff „Rente mit 63“ ist jedoch missverständlich, da das Rentenalter schrittweise angehoben wird. Daher verschiebt sich auch das Eintrittsalter für die „Rente mit 63“ nach oben. Personen, die dem Geburtsjahrgang 1964 oder später angehören, können erst mit 65 Jahren ohne Abschläge in den Ruhestand wechseln.
Mehrere Analysen, unter anderem vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln (IW), zeigen, dass die abschlagsfreie „Rente mit 63“ überwiegend von Ruheständlern mit vergleichsweise hohen Alterseinkommen in Anspruch genommen wird. Dazu zählen hauptsächlich Männer und Menschen mit hoher Qualifikation, wie etwa Facharbeiter. Der durchschnittliche Rentenzahlbetrag für diese Gruppe („Altersrenten für besonders langjährig Versicherte“) liegt mit 1.574 Euro deutlich höher als der durchschnittliche Zahlbetrag für Renten wegen Alters, der 2023 bei 1.102 Euro monatlich lag. Diese höhere Rente resultiert jedoch auch aus den langen Versicherungszeiten dieser Personen. Menschen mit niedrigem Einkommen hingegen sind häufig darauf angewiesen, bis zur Regelaltersrente weiterzuarbeiten, da sie keine ausreichende Rente erwarten können und weitere Rentenpunkte sammeln müssen.
Bereits im Februar 2023 hatte Martin Werding in einem Interview mit t-online.de gefordert, dass Frührentner höhere Abschläge akzeptieren müssen. Er verwies damals darauf, dass Abschläge von fünf bis sechs Prozent „in Ländern, die genauer rechnen“ üblich seien, zum Beispiel in Schweden. Doch dies ist nur eine der Forderungen Werdings für eine Rentenreform. Um den Rentenbeitrag zu stabilisieren, sei es notwendig, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung anzupassen. Auch könnten hohe Renten abgeschmolzen werden, ohne die niedrigeren anzutasten, um die Ausgaben der Rentenversicherung zu senken. Für Menschen, die in körperlich und psychisch anstrengenden Berufen arbeiten, könnten die Abschläge nach bestimmten Kriterien gesenkt werden, um soziale Härten zu vermeiden.
Wie unpopulär das Ansinnen von Werding ist, zeigt sich an Umfrage-Ergebnissen der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2023. Weniger als jeder zehnte Beschäftigte gibt an, über die Regelaltersgrenze hinaus arbeiten zu wollen. Mehr als ein Viertel der Berufstätigen will dagegen schon früher in Rente gehen, ein Viertel ist noch unentschlossen.