Auf die Frage des Interviewers, wie lange „wir uns das noch leisten können“ – ob sich dies auf die Mehrbelastungen durch Reformen oder das Rentensystem in seiner aktuellen Form bezieht, bleibt unklar – antwortet Bernd Raffelhüschen, dass er keine Prognose wage. Man könne das System noch einige Jahre aufrechterhalten, aber es werde zunehmend schwieriger. Raffelhüschen warnt: „Sie dürfen nicht vergessen, dass die Babyboomer jetzt in den Ruhestand gehen. In den kommenden Jahren werden Millionen von Beitragszahlern zu Rentenempfängern. Das wird die ohnehin angespannte finanzielle Lage der Rentenkasse noch verschärfen. Irgendwann in den nächsten zehn Jahren wird das System dann komplett zusammenbrechen“, so der Ökonom.
Auch den zukünftig zu zahlenden Rentenbeitrag, den das Bundesarbeitsministerium im Gesetzentwurf ausweist, hält Raffelhüschen für zu niedrig: Ein Beitragssatz von gut 22 Prozent sei unrealistisch. Bei einer Nettozuwanderung von 300.000 qualifizierten Fachkräften pro Jahr würde man Ende der 2030er Jahre „irgendwo um die 24 Prozent landen“, bei einer geringeren Nettozuwanderung bei 25 Prozent oder gar 26 Prozent, warnt er. Das hieße, "dass wir wahrscheinlich um das Jahr 2035 bei knapp 50 Prozent Sozialabgaben liegen werden, und um das Jahr 2045 sehr wahrscheinlich bei knapp 60 Prozent“, so der Freiburger.
Raffelhüschen empfiehlt folgende Reformen zur Stabilisierung des Rentenbeitrags:
- Wiederherstellung des Nachhaltigkeitsfaktors: Raffelhüschen fordert die Rückkehr zum Nachhaltigkeitsfaktor, der mit der Agenda 2010 unter dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeführt wurde. Dieser Faktor berücksichtigt das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern sowie die Konjunktur: bei einer ungünstigen Entwicklung steigen die Renten weniger stark. Er wurde bereits unter der großen Koalition ausgesetzt, was Raffelhüschen als großen Fehler ansieht.
- Senkung des Rentenniveaus: Er empfiehlt, das Rentenniveau von aktuell 48 Prozent auf etwa 42 Prozent abzusenken. Dies soll helfen, die finanzielle Stabilität des Rentensystems zu verbessern.
- Erhöhung des Rentenalters: Raffelhüschen schlägt vor, das Rentenalter bis 2030 auf 69 oder 70 Jahre zu erhöhen, um den demografischen Herausforderungen besser begegnen zu können.
- Anpassung der Arbeitszeiten: Er unterstützt die Forderung nach längeren Wochenarbeitszeiten und einer Rückkehr zur 40-Stunden-Woche. Dies sei notwendig, um mit einer geringeren Anzahl von Menschen ein ausreichendes Sozialprodukt zu erwirtschaften.
- Förderung der Zuwanderung und Vollzeitarbeit von Frauen: Raffelhüschen betont die Notwendigkeit einer funktionierenden Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und schlägt vor, dass Frauen, die derzeit noch in Teilzeit tätig sind, länger arbeiten, um das Rentenniveau von 42 Prozent zu erreichen und stabile Beitragssätze zu gewährleisten.
- Stärkung der privaten Altersvorsorge: Da eine Rente von 42 Prozent nicht ausreichen wird, plädiert Raffelhüschen für eine stärkere Förderung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge.
- Reform der Beamtenpensionen: Raffelhüschen fordert, den Nachhaltigkeitsfaktor auf die Beamtenpensionen zu übertragen und die Beamten bis 70 Jahre arbeiten zu lassen. Zudem soll die Verknüpfung der Beamtenpensionen mit der Lohnentwicklung der aktiven Beamtenschaft gelockert werden.
- Reduzierung der Verbeamtung: Er schlägt vor, die Verbeamtung drastisch einzuschränken, wobei hoheitlich-rechtliche Beamte wie Polizisten und Richter weiterhin verbeamtet bleiben sollen. Die Verbeamtung von Lehrern und Hochschullehrern sollte abgeschafft werden, um die Kosten zu senken. Raffelhüschen hält jedoch eine Einigung zwischen Bund und Ländern für unwahrscheinlich.
- Rückkehr zur Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes: Er empfiehlt, die Föderalismusreform II von 2009 zurückzunehmen, die die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes abgeschafft hat. Dies würde eine umfassende Reform auf Bundesebene ermöglichen, ähnlich wie es in Österreich und den skandinavischen Ländern praktiziert wird.