Neues Haftungsprinzip: Gericht stärkt Rechte von Versicherten bei Krankengeld

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Ein Arbeitnehmer wird krank und beantragt Krankengeld, doch die Krankenkasse verweigert die Zahlung. Der Grund: Die Arbeitsunfähigkeit sei nicht rechtzeitig gemeldet worden. Das Bundessozialgericht urteilte nun zum Ende des vorigen Jahres, warum der Versicherte trotzdem Anspruch auf Krankengeld behält – und wie sich die rechtliche Verantwortung durch die Digitalisierung grundlegend verschiebt. Versicherungsbote stellt das Urteil vor.

Im Frühjahr 2021 geriet ein Arbeitnehmer, freiwillig bei der Pronova BKK versichert, in eine schwierige Situation. Nachdem er Ende März arbeitsunfähig geworden war, erhielt er bis zum 11. Mai Entgeltfortzahlung durch seinen Arbeitgeber. Für die Zeit danach, vom 12. Mai bis zum 21. Juli 2021, beantragte er Krankengeld bei seiner Krankenkasse. Doch die Pronova BKK lehnte den Antrag ab. Der Vorwurf: Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen seien nicht rechtzeitig gemeldet worden, und ohne rechtzeitige Meldung ruhe der Anspruch auf Krankengeld.

Die Sache schien zunächst einfach: Ohne fristgerechte Meldung, so die Krankenkasse, entfalle der Anspruch auf Krankengeld. Doch der Kläger gab sich damit nicht zufrieden und beschritt den Rechtsweg – ein langer Weg durch die Instanzen begann.

Der Klageweg: Erfolg vor Sozial- und Landessozialgericht

Der Kläger erhob zunächst Klage beim Sozialgericht Köln (Az.: S 23 KR 1875/21), wo das Gericht ihm Recht gab. Es hob den ablehnenden Bescheid der Krankenkasse auf und verpflichtete die Pronova BKK zur Zahlung des Krankengeldes. Das Sozialgericht entschied, dass der Versicherte nicht mehr verpflichtet sei, seine Krankenkasse selbst über die Arbeitsunfähigkeit zu informieren. Diese Pflicht lag seit dem 1. Januar 2021 bei den behandelnden Ärzten.

Die Krankenkasse legte Berufung ein, und der Fall landete vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Az.: L 10 KR 245/22). Auch hier wurde die Klage des Versicherten bestätigt. Das Landessozialgericht entschied, dass der Kläger seiner Meldeobliegenheit nicht mehr nachkommen müsse, da das neue elektronische Verfahren die Versicherten entlaste. „Der Versicherte hat keine Pflicht mehr, die Krankenkasse über die Arbeitsunfähigkeit zu informieren, diese Verantwortung liegt bei den Ärzten,“ hieß es im Urteil. Die Krankenkasse akzeptierte das Urteil nicht und legte Revision beim Bundessozialgericht ein.

Die Neuerung: Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seit 2021

Ein zentraler Aspekt des Falles ist die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) zum 1. Januar 2021. Vor dieser Neuregelung waren Versicherte verpflichtet, ihre Krankenkasse innerhalb einer Woche nach Beginn einer Arbeitsunfähigkeit zu informieren, um ihren Krankengeldanspruch zu wahren. Diese Verpflichtung lag direkt beim Versicherten.

Mit der Neuregelung änderte sich das Prinzip: Die Verantwortung zur Meldung der Arbeitsunfähigkeit wurde den behandelnden Ärzten übertragen, die die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung elektronisch an die Krankenkassen übermitteln müssen. Der Versicherte war dadurch entlastet, da die Meldungspflicht nicht mehr bei ihm lag.

Die Argumentation der Krankenkasse: Verantwortung des Versicherten?

Trotz dieser klaren Neuregelung argumentierte die Pronova BKK, dass der eigentliche Zweck der Meldepflicht – nämlich die zeitnahe Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit durch die Krankenkasse – durch die elektronische Umstellung ausgehebelt werde. Die Krankenkasse argumentierte, dass der Versicherte für technische Fehler oder Verspätungen bei der Übermittlung der Bescheinigung durch den Arzt verantwortlich gemacht werden müsse, um den Schutz der Krankenkassen zu gewährleisten.

Die Krankenkasse verwies darauf, dass die technische Infrastruktur vieler Arztpraxen 2021 noch nicht ausgereift war. Verzögerungen bei der elektronischen Übermittlung der Bescheinigungen seien nicht selten, und daher müsse der Versicherte weiterhin in der Pflicht bleiben, die Krankenkasse über seine Arbeitsunfähigkeit zu informieren, wenn die elektronische Übermittlung scheitert.

Die Urteilsgründe: Die Entlastung der Versicherten durch das neue Verfahren

Das Bundessozialgericht (Az.: B 3 KR 23/22 R) wies diese Argumentation zurück und stellte die Verantwortung der Versicherten in ein neues Licht. Das Gericht stellte klar, dass der Gesetzgeber die Meldeobliegenheit bewusst vom Versicherten auf die Ärzte verlagert hat. Seit dem 1. Januar 2021 sind die behandelnden Ärzte dafür verantwortlich, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen elektronisch an die Krankenkasse zu übermitteln. Da der Kläger keine Pflichtverletzung begangen hatte, wurde die Krankenkasse zur Nachzahlung des verweigerten Krankengeldes für den Zeitraum vom 12. Mai bis zum 21. Juli 2021 verurteilt.

Wie das Bundessozialgericht argumentierte

Das Gericht erklärte unmissverständlich: „Der Gesetzgeber hat zum Stichtag 1.1.2021 die Versicherten von ihrer Obliegenheit zur Meldung der Arbeitsunfähigkeit weitestgehend entlastet.“​ Diese Entlastung bedeutet, dass der Versicherte nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann, wenn die elektronische Übermittlung durch den Arzt nicht oder verspätet erfolgt.

Damit machte das Gericht klar, dass der Krankengeldanspruch „nicht ruht, wenn durch den Vertragsarzt entgegen seiner seit 1.1.2021 gesetzlich begründeten Pflicht die Übermittlung nicht erfolgt.“ Es lag also keine Pflichtverletzung des Klägers vor – selbst wenn die Übermittlung der Arbeitsunfähigkeit durch den Arzt nicht rechtzeitig funktionierte. Die Verantwortung lag eindeutig bei den Ärzten.

Die rechtliche Wende: Wer haftet bei technischen Problemen?

Das Urteil des Bundessozialgerichts markiert eine deutliche rechtliche Wende: Selbst wenn die elektronische Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch den Arzt nicht korrekt oder rechtzeitig erfolgt, bleibt der Versicherte aus der Haftung heraus. Technische Probleme oder Verzögerungen, die außerhalb des Einflussbereichs des Versicherten liegen, dürfen sich nicht nachteilig auf seinen Anspruch auf Krankengeld auswirken.

Das Gericht stellte klar, dass technische Verzögerungen oder Fehler bei der Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht zu Lasten des Versicherten gehen dürfen: „Soweit sich bei der elektronischen Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten Verzögerungen ergäben, lägen sie insoweit nicht mehr im Einflussbereich der Versicherten, sodass sie keine Rechtsfolgen zu tragen hätten."

Damit wird das Haftungsprinzip grundlegend verschoben: Die Verantwortung zur fristgerechten Übermittlung liegt vollständig bei den Ärzten und den Krankenkassen. Für Versicherte bedeutet dies eine deutliche Entlastung.

Fazit: Die neue Rechtslage im Krankengeldverfahren

Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. November 2023 bringt eine klare Veränderung im Krankengeldverfahren: Die Pflicht zur Meldung der Arbeitsunfähigkeit liegt nun ausschließlich bei den Ärzten. Versicherte müssen sich keine Sorgen mehr machen, wenn technische Probleme die Übermittlung der Bescheinigung verzögern.

  • Keine Meldepflicht für Versicherte: Seit dem 1. Januar 2021 liegt die Pflicht zur Meldung der Arbeitsunfähigkeit bei den Ärzten, nicht mehr bei den Versicherten.
  • Technische Probleme nicht zulasten der Versicherten: Wenn die elektronische Übermittlung aus technischen Gründen scheitert, bleibt der Anspruch auf Krankengeld bestehen.
  • Haftung bei den Ärzten: Die Verantwortung für die rechtzeitige Meldung liegt seit der Gesetzesänderung bei den Ärzten, der Versicherte ist vollständig entlastet.

Dieses Urteil zeigt, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht nur den Prozess vereinfacht, sondern auch die Haftungsverantwortung grundlegend verändert – zum Vorteil der Versicherten.