Deutsche Versicherungen haben erhebliche Mängel bei der Barrierefreiheit ihrer Internetangebote. Kein Anbieter erfüllt derzeit die Mindestanforderungen des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG), das ab Juni 2025 verbindlich wird. Ab diesem Zeitpunkt drohen nicht nur Imageschäden, sondern auch Strafen.
Ab dem 28. Juni 2025 sind die Unternehmen in Deutschland gesetzlich verpflichtet die Vorgaben des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) umzusetzen. Dieses schreibt verbindliche Richtlinien für Produkte und Dienstleistungen im Internet vor. Dazu gehören Webseiten, Apps, Dokumente, Portale, Online-Kaufprozesse und Onlineverträge, unter anderem von Finanzdienstleistern. Das Gesetz basiert auf den internationalen Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) der Stufen A und AA sowie der europäischen Norm EN 301 549.
Eine aktuelle Analyse des Beratungs- und Softwarehauses PPI AG zeigt, dass deutsche Versicherer noch erheblichen Nachholbedarf bei der Barrierefreiheit ihrer Internetangebote haben. Keine der untersuchten Versicherungen erfüllt derzeit die Mindestanforderungen. Untersucht wurden zwölf deutsche Versicherungen mit einem B2C-Fokus anhand von 15 Pflicht- und 5 Kann-Kriterien. Bewertet wurde der aktuelle Stand der Barrierefreiheit auf den Startseiten, Loginseiten, Consentbannern und Produktübersichtsseiten. Das Ergebnis: Keine der getesteten Versicherungen erfüllt die Mindestanforderungen zur Barrierefreiheit gemäß BFSG. Dies führt zu erheblichen Nutzungshürden für Menschen mit Einschränkungen, wodurch die Bedienung wichtiger Vertriebs- und Serviceprozesse oder Portale erschwert wird.
Auch digitale Dokumente wurden untersucht, insbesondere im PDF/A-Format. Im Vergleich dazu bietet das PDF/UA-Format barrierefreiere Funktionen. PDF/A-Dokumente erfüllen nicht immer die Anforderungen der Barrierefreiheit, da sie oft nicht die notwendige Struktur und Tags für die Nutzung durch assistive Technologien aufweisen.
Die praktischen Auswirkungen dieser Barrieren erläutert Stan Patzschke, Manager bei der PPI AG: „Viele Menschen mit Beeinträchtigungen sind beispielsweise auf Screenreader angewiesen. Häufig lässt sich mithilfe dieser Vorleseanwendungen nicht erkennen, wo sich etwa der Login des Versicherers befindet und wie er zu bedienen ist.“ Dasselbe Problem besteht bei Eingabefeldern in Formularen, wenn ausreichende Kontextinformationen fehlen. Nutzer mit Einschränkungen können sie schlicht nicht bedienen. „Hiervon sind nicht nur Personen mit Behinderungen betroffen, auch ältere Menschen sehen sich häufig mit Schwierigkeiten konfrontiert“, betont Patzschke.
Insgesamt umfassen die WCAG 435 Einzelpunkte, ergänzt durch rund 24 erweiterte Anforderungen der EN 301 549 – das BFSG basiert auf diesem Gesamtkatalog. Das Beratungsunternehmen hat 20 besonders wichtige von den insgesamt 86 Kriterien des WCAG 2.2 für die Untersuchung ausgewählt. Die geprüften Website-Bestandteile umfassen Tastaturbedienung, Screenreader-Nutzbarkeit, Code, Bilder, Video und Audio.
Die Versicherungsbranche habe den Handlungsbedarf bereits erkannt. Marktkontakte würden zeigen, dass viele Versicherungen derzeit Barrierefreiheitsprojekte gestartet haben. „Der schiere Umfang der BFSG-Vorgaben erfordert zwar umfangreiche Anpassungen, noch ist aber genug Zeit zur Umsetzung für die Versicherer in Deutschland. Es kommt aus unserer Sicht jedoch darauf an, an den richtigen Stellschrauben zu drehen und effizient vorzugehen. Dazu gehört beispielsweise, die Themenfelder klar zu definieren und die Umsetzung entsprechend zu priorisieren.“, erklärt Patzschke.
Für die Nichteinhaltung der Vorgaben drohen ab Juni 2025 Sanktionen. Vorgesehen sind Ermahnungen bei Nichterfüllung, gekoppelt mit kurzen Verbesserungsfristen sowie Bußgelder bei fortgesetzter Nichteinhaltung. Im Extremfall können die zuständigen Stellen sogar verlangen, dass die betroffene Funktion bis zur Behebung des Problems abgeschaltet wird. Wichtiger ist laut PPI-Manager Patzschke jedoch: „Ein Abbau digitaler Barrieren steigert nicht nur die Reputation des Unternehmens, sondern öffnet es auch für weitere Zielgruppen, denen der Zugang bislang erschwert oder sogar ganz verwehrt wurde.“ Dies könnte Versicherern im hart umkämpften Markt helfen, zusätzliche Kunden zu gewinnen.