Situativ führen: Kein alter Hut, sondern ein Gebot der Stunde

Quelle: MTI Consultancy

Führungskräfte müssen ein Führungsverhalten zeigen, das flexibel auf das jeweilige Gegenüber und die Situation reagiert. Das gilt aktuell aufgrund der sich rasch wandelnden Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Handelns mehr denn je, meint Managementberater Hans-Peter Machwürth in seinem Gastbeitrag.

Den idealen Führungsstil gibt es nicht. Vielmehr müssen Führungskräfte ihr Verhalten stets dem jeweiligen Gegenüber und der jeweiligen Situation anpassen – und somit auch den gerade aktuellen Herausforderungen. Sie sollten also beispielsweise bedarfs- und situationsabhängig

  • ihre Mitarbeiter mal loben, mal tadeln,
  • sie mal beim Erfüllen ihrer Aufgaben aktiv unterstützen, mal sich bewusst zurücknehmen,
  • mal Veränderungen stark forcieren, mal bewusst den Fuß vom Gas nehmen,
  • und, und, und.

Dies forderten Ken Blanchard und Paul Hersey, die Entwickler des Situational Leadership-Ansatzes, schon 1968 – also zu einer Zeit als das Gros der Baby-Boomer, die aktuell aus dem Erwerbsleben ausscheiden, noch die Schulbank drückte.

Die Mitarbeiter situativ führen und individuell entwickeln

Deshalb ist das „situative Führen“ für viele Unternehmen ein alter Hut. Doch leider wurde bei der Adaption dieses Führungsstils im Betriebsalltag in der Vergangenheit oft der Entwicklungsgedanke vergessen, der mit dem situativen Führen verbunden ist. Eine Ursache hierfür war und ist heute mehr denn je: Nicht wenige Führungskräfte fühlen sich von den vielen Aufgaben, die auf ihren Schultern lasten, überfordert. Deshalb fokussiert sich ihre Aufmerksamkeit auf die dringliche Tagesarbeit.

Und damit beginnt ein Teufelskreislauf. Weil die Führungskräfte insbesondere die nachrückenden Mitarbeiter – zum Beispiel der Generationen Y und Z und demnächst Alpha – nicht ausreichend fördern, können sie ihnen auch nicht mit der Zeit mehr und komplexere Aufgaben übertragen. Deshalb steigt in der von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten VUKA-Welt sukzessiv ihre Belastung.

Reagierend auf diese Situation fordern seit einigen Jahren zahlreiche Unternehmen von ihren Führungskräften, dass sie ihre Mitarbeiter „agil führen“ – also einen Führungsstil praktizieren, der weitgehend auf die Eigenverantwortung der Mitarbeiter setzt. Das ist schön und gut! Doch leider wird hierbei oft übersehen, dass ein solcher Führungsstil, einen hohen Reifegrad nicht nur der Mitarbeiter, sondern auch Führungskräfte erfordert.

Die vier Stufen der Mitarbeiterentwicklung

Dem Situational Leadership-Ansatz zufolge lassen sich in der Entwicklung von Mitarbeitern, abhängig von deren Kompetenz und Engagement, vier Stufen unterscheiden. Diese seien kurz skizziert.
Wenn Mitarbeiter eine neue Aufgabe übernehmen, dann haben sie hiermit in der Regel noch kaum Erfahrung. Ihre Kompetenz ist also gering. Trotzdem gehen sie die Aufgabe mit Begeisterung und einem großen (Lern-)Eifer an (Entwicklungsstufe 1). Doch meist stellt sich bald eine gewisse Desillusionierung ein – zum Beispiel, weil sich die neue Aufgabe als schwieriger als gedacht erweist. Die hieraus resultierende Ernüchterung verursacht nicht selten ein Nachlassen des Engagements (Entwicklungsstufe 2). Trotzdem arbeiten die Mitarbeiter weiter und entwickeln so allmählich ein Gespür dafür, wie sie die Aufgabe meistern können. Sie sind aber noch unsicher und fragen sich: „Kann ich das wirklich alleine?“. So schwankend wie ihre Gefühle ist dann ihr Engagement (Entwicklungsstufe 3). Je häufiger die Mitarbeiter die Aufgabe aber mit Erfolg gelöst haben, umso größer wird ihre Sicherheit. Sie entwickeln sich also zu „Profis“, die die Aufgabe routiniert lösen und auch nicht panisch reagieren, wenn bei deren Lösung mal ein etwas anderes Vorgehen praktiziert werden muss (Entwicklungsstufe 4).

Bei den vier Entwicklungsstufen gilt es zu beachten: Sie beziehen sich stets nur auf eine Aufgabe. Das heißt, bei jedem Mitarbeitenden sind die Kompetenz und das Engagement von Aufgabe zu Aufgabe verschieden. Also ist auch ein unterschiedliches Führungsverhalten angesagt. Diese gilt heute – in einer Zeit, in der die Teams immer heterogener werden – mehr denn je.

Das Führungsverhalten dem Adressaten anpassen

Beim Führungsverhalten lassen sich dem Situational Leadership-Ansatz zufolge zwei Grundkategorien unterscheiden: ein dirigierendes und ein unterstützendes Verhalten.

  • Ein dirigierendes Verhalten konzentriert sich darauf, wie eine Aufgabe zu erfüllen ist. Bei ihm sagt und zeigt die Führungskraft ihrem Mitarbeiter, wann und wie etwas getan werden muss, und gibt ihm ein Feedback über das Ergebnis. Das Ziel eines dirigierenden Verhaltens ist es, die Kompetenz anderer Menschen zu entwickeln.
  • Ein unterstützendes Verhalten hingegen zielt darauf ab, die Eigeninitiative von Menschen zu fördern und ihre Einstellung bezüglich einer Aufgabe zu beeinflussen. Beispiele für ein unterstützendes Verhalten sind Loben, Zuhören und Ermutigen; außerdem das Einbeziehen von Menschen in das Lösen eines Problems.

Aus den beiden Grundkategorien lassen sich abhängig von deren Ausprägung und Kombination vier Führungsstile ableiten.
Führungsstil 1 – Anweisen/Anleiten: Dieser Führungsstil zeichnet sich durch ein stark dirigierendes und wenig unterstützendes Verhalten aus. Der Vorgesetzte gibt dem Mitarbeiter detaillierte Anweisungen, wie und mit welchen Zielen eine Aufgabe zu erfüllen ist, und überwacht eng das Vorgehen und die Leistung.
Führungsstil 2 – Trainieren: Dieser Führungsstil ist durch ein stark dirigierendes und unterstützendes Verhalten charakterisiert. Der Vorgesetzte erläutert Entscheidungen, erfragt Vorschläge, lobt Vorgehensweisen (selbst wenn diese nur teilweise richtig sind) und gibt genaue Anleitungen. Vorschläge zum Vorgehen des Mitarbeiters sind zwar erwünscht, die Entscheidungen trifft aber weiterhin die Führungskraft.
Führungsstil 3 – Coachen: Dieser Führungsstil ist gekennzeichnet durch ein stark unterstützendes und wenig dirigierendes Verhalten. Er zielt primär auf ein Stärken oder Bewahren des Engagements des Mitarbeiters ab. Führungskräfte, die diesen Stil praktizieren, hören unter anderem ihren Mitarbeitern zu und ermutigen diese, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen und Problemlösungen zu entwerfen.
Führungsstil 4 – Delegieren: Dieser Führungsstil ist durch ein wenig unterstützendes und dirigierendes Verhalten geprägt. Der Vorgesetzte lässt den Mitarbeiter eigenständig handeln und sorgt für die nötigen Ressourcen. Dabei bestimmt der Vorgesetzte jedoch weiterhin (im Idealfall im Dialog mit dem Mitarbeiter) welche Ergebnisse gewünscht sind, und stellt sicher, dass Zielklarheit besteht. Er beobachtet und überwacht zudem die Leistung.

Die vier Führungsstile bedarfsorientiert anwenden

Wenn Führungskräfte die vier Führungsstile und die Entwicklungsstufe ihrer Mitarbeiter kennen, können sie entscheiden, welches Führungsverhalten bei einer Aufgabe angemessen ist, um deren Kompetenz zu steigern und eine Demotivation von ihnen zu vermeiden.
Hierfür ein Beispiel: Angenommen ein junger Mitarbeiter soll erstmals eigenständig ein Projekt planen und durchführen. Er befindet sich also bezogen auf diese Aufgabe auf der Entwicklungsstufe 1. Dann benötigt er von seinem Vorgesetzten (oder einem erfahrenen Kollegen) eine fachliche Unterstützung, wie er dabei vorgehen sollte. Er muss zudem ermutigt werden: „Das schaffen Sie mit meiner Unterstützung, selbst wenn ...“. Anders ist es, wenn der Mitarbeiter schon mehrere Projekte geplant und gemanagt hat. Gibt sein Vorgesetzter ihm dann immer noch jeden Arbeitsschritt vor und schaut ihm permanent über die Schulter, dann lähmt dies seine fachliche Weiterentwicklung und seine Motivation sinkt. Denn er denkt zu Recht: „Mein Chef betrachtet mich als blutigen Anfänger. Er würdigt mein Können nicht.“

Mit den Mitarbeitern einen lebendigen Dialog führen

Daraus folgt: Führungskräfte müssen ihr Führungsverhalten im Betriebsalltag immer wieder neu der Entwicklung des jeweiligen Mitarbeiters und der jeweiligen Situation anpassen. Dies gilt insbesondere bezogen auf die Angehörigen der Generation Z, da sie in der Regel noch recht frisch im Unternehmen sind, weshalb einerseits von ihnen viele Veränderungsimpulse ausgehen können und anderseits viele von ihnen mit gewissen Aufgaben noch nicht vertraut sind sowie noch keine intensive Beziehung zum Betrieb aufgebaut haben.
Diese Mitarbeiter bedarfs- und zielorientiert zu führen, setzt voraus, mit ihnen in einem Dialog zu stehen und offen für ihre Ideen, Wünsche und Bedürfnisse zu sein. Ansonsten fühlen sich die jungen Mitarbeiter nicht wertgeschätzt und es findet bei ihnen nicht die gewünschte Entwicklung statt. Vielmehr sind sie zunehmend frustriert, weshalb sie immer stärker einen Arbeitgeberwechsel erwägen – zumindest, wenn sie wie aktuell zumeist mehrere Jobalternativen haben.

Situatives Führen: In der VUKA-Welt ein Muss

Ein situativer Führungsstil ist aktuell auch aufgrund des technischen Fortschritts und der sich rasch wandelnden Rahmenbedingungen unternehmerischen Handelns nötig, denn hieraus resultiert in vielen Unternehmen ein hoher Change- und somit Lernbedarf. Auch deshalb müssen ihre Führungskräfte eine große Verhaltensflexibilität sowohl beim Führen ihrer Bereiche als auch Mitarbeiter zeigen. Deshalb gibt es zum situativen Führungsstil, der flexibel auf das jeweilige Gegenüber, die jeweilige Ist-Situation sowie die gerade aktuellen Herausforderungen reagiert und die Mitarbeiter individuell und bedarfsorientiert in ihrer Entwicklung fördert, momentan faktisch keine Alternative. Also sollten die Unternehmen ihre nachrückenden Führungskräfte darin trainieren, ein entsprechendes Führungsverhalten zu zeigen.

Zum Autor: Hans-Peter Machwürth ist Geschäftsführer des Trainings- und Beratungsunternehmens Machwürth Team International (MTI Consultancy), Visselhövede. Dieses offeriert Unternehmen unter anderem ein „360°-Leadership-Programm“, das ihre Führungskräfte für ihre Führungsaufgaben in der VUKA-Welt qualifiziert.