Neue Technologien und Konzepte in der Automobiltechnik, wie autonomes Fahren und innovative Carsharing-Modelle, bringen für Kfz-Versicherer sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Beatrice Jacobus, Director Sales B2B2C bei der Neodigital Versicherung AG, erklärt im Interview, wie diese Innovationen die Autoversicherung und die gesamte Branche beeinflussen könnten.
Versicherungsbote: Frau Jacobus, wie sehen Sie die Rolle der traditionellen Kfz-Versicherung in einer Zukunft, in der Sharing-Economy und Mobilitätsdienste wie Carsharing und Ridesharing immer populärer werden?
Beatrice Jacobus: Die Neuausrichtung der Verkehrspolitik in vielen europäischen Metropolen und die Bestrebungen zur Mobilitätswende auch in Deutschland lassen die Frage nach der Zukunft der traditionellen Kfz-Versicherung durchaus nachvollziehbar und berechtigt erscheinen.
Die Neodigital ist im vergangenen Jahr mit der Kfz-Versicherung neu gestartet. Wir gehen von einer hohen Nachfrage auch in unserem Heimatmarkt aus und glauben, dass sich neue Konzepte in Deutschland relativ langsam durchsetzen werden.
Das Mobilitätbedürfnis der Menschen, ob in der Stadt oder auf dem Land, wächst. Attraktive neue Mobilitätsangebote sind in den letzten Jahren vor allem in urbanen Strukturen stark gestiegen. Diese benötigen natürlich auch neue Versicherungslösungen, die alle Aspekte der neuen Art von Mobilität berücksichtigen und absichern.
Verschiedene Studien belegen, dass Carsharing-Angebote in Großstädten den Menschen mehr Möglichkeiten bieten, ihre Mobilität individueller und unabhängiger von Fahrplänen zu gestalten. Sie werden meistens für kurze und mittlere Wege genutzt und nicht für häufig wiederholende Fahrten wie zum Beispiel für Arbeitswege. Arbeitswege werden hingegen meist immer noch mit dem eigenen Auto zurückgelegt: Viele Menschen pendeln zum Beispiel täglich nach wie vor aus dem Umland nach Berlin mit dem Auto, weil Alternativen zu umständlich sind. Das Auto wird daher auch in den nächsten 20 Jahren, besonders außerhalb von Großstädten, weiterhin wichtig sein.
Der Markt für die Kfz-Versicherung wird alleine aus diesem Grund relativ stabil sein. Die Versicherer stellen sich allerdings nach meiner Wahrnehmung darauf ein, dass sich mit der Ausweitung von Mobilitätskonzepten die Kundenrolle zunehmend ändert. Halter/Besitzer sind eher Unternehmen und nicht Privatkund*innen. Der Fahrende/ Nutzende wird über zusätzliche Versicherungsleistungen als Versicherungskund*in „eingebettet“ werden müssen.
Die Anpassung an ein verändertes Kundenverhalten ist Pflichtaufgabe für uns, gerade in einem so wichtigen Geschäftsfeld wie der Kfz-Versicherung. Daher beobachten wir hier Marktentwicklungen ganz genau.
Welche Anpassungen müssen Versicherer vornehmen, um auf die zunehmende Automatisierung und das autonome Fahren zu reagieren?
Bis Fahrzeuge wirklich vollautonom in Deutschland fahren, werden sicher noch einige Jahre vergehen. Mercedes Benz erhielt als erster Automobilhersteller in 2022 die Zulassung für hochautomatisierte Fahrsysteme; und BMW folgte im Frühjahr 2024.
Der Fahrer oder die Fahrerin kann sich in diesen doch noch sehr beschränkt zugelassenen Systemen derzeit ausschließlich auf der Autobahn vom Verkehr abwenden, bei maximaler Geschwindigkeit von 60 km/h; und muss aber jederzeit in der Lage sein, das Führen des Fahrzeuges sofort wieder zu übernehmen.
Zum Versicherungsschutz bezog der GDV bereits Stellung. Die fortschreitende Automatisierung ändert grundsätzlich nichts am Versicherungsschutz. Die Kfz-Haftpflicht des Halters bzw. der Halterin leistet bei Unfällen, die geschädigte Person hat bekanntlich nach deutschem Recht einen Direktanspruch an den Kfz-Haftpflichtversicherer.
Diskutiert werden müssen allerdings Antworten auf die Frage: wer oder was hat den Unfall verursacht? War es ein konventioneller Fahrfehler, ein Problem im oder mit dem Fahrzeug (defekte Teile, fehlerhaftes Software-Update) oder waren es andere Quellen (durch Hackerangriff veränderte Software, Ausfall innerstädtischer Verkehrsleitsysteme)? Eine Gretchenfrage ist: Kann der Versicherer den Verursacher in Regress nehmen?
Beim Versicherer muss daher bei der Regresssteuerung nachgerüstet werden. Es muss jederzeit zweifelsfrei nachvollziehbar sein, ob der Mensch oder das System das Fahrzeug führte, ob technische Störungen auftraten und wo sich das Fahrzeug genau befand. Hier ist ein Datenaustausch von Versicherer und Hersteller unerlässlich. Dafür müssen einheitliche Standards zum Datenaustausch geschaffen werden, die festlegen, welche Daten für den Schadenfall relevant sind. Um uns auf die technische Weiterentwicklung vorzubereiten, sind wir bereits im engen Austausch mit Herstellern.
Darüber hinaus haben wir in diesem Jahr einen Telematiktarif eingeführt. Die freiwillige Wahl unserer Versicherungsnehmer*innen für diese Tarifform bietet ein gutes Lernumfeld im Umgang mit Daten in Vorbereitung auf echtes autonomes Fahren.
Wie werden sich die Versicherungsmodelle dadurch verändern?
Die zentrale Frage, die sich ein Kfz-Versicherer immer stellt, ist doch, wie sich die Schadenaufwände und -frequenzen entwickeln? Andere Tarifierungsmodelle werden in Haftpflicht und Kasko die bisherigen ablösen. Durch Assistenzsysteme und autonomes Fahren werden datengetriebene Modelle entstehen, die sich im Schadenfall schwerpunktmäßig darauf konzentrieren, wer der Verursacher des Schadens war und ob der Versicherer Regressansprüche zum Beispiel gegenüber dem Hersteller hat.
In der Fahrzeugversicherung wird die steigende Anzahl von Assistenzsystemen in der Annahmepolitik ihren Niederschlag finden.
Assistenzsysteme sollen dem Grunde nach grundsätzlich das Autofahren sicherer machen, sind aber aufwendig zu reparieren und haben auf viele Schadenereignisse (Glasbruch, Naturgefahren, Hagel, Marderbisse) keinen Einfluss.
Wie beeinflusst die zunehmende Nutzung von Telematik und datengetriebenen Technologien die Risikobewertung und Prämienkalkulation in der Autoversicherung?
Der Kfz-Telematik-Tarif bietet einen innovativen Ansatz für zukünftige Versicherungsprodukte. Er ist von Grund auf datenbasiert und ermöglicht eine Risikobewertung entsprechend des Fahrverhaltens. Das bedeutet, dass der Versicherungsnehmer oder die Versicherungsnehmerin abhängig vom individuellen Fahrverhalten die Versicherungsprämie selbst beeinflussen kann. Neben den klassischen Tarifmerkmalen werden weitere Informationen wie die tatsächliche Fahrzeit, die Route und der Fahrstil erfasst und automatisiert ausgewertet. Durch Vernetzung und Digitalisierung bieten sich hier neue Möglichkeiten, Einfluss auf das Risikoverhalten und die Prämienkalkulation zu nehmen.
Wenn sich diese Lösungen durchsetzen und einzelne Versicherer eine kritische Größe erreicht haben, um auf Basis dieser Daten zu kalkulieren, wird es den Versicherern gelingen, eine bessere Risikokalkulation in Telematiktarifen zu generieren. Genau hier setzt unser Telematics-as-a-Service Angebot an, welches wir über die WeEnable Service GmbH im Markt platzieren.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Absicherung von Fahrzeugflotten für Unternehmen, die auf Mobilitätsdienste setzen? Gibt es hier spezielle Anforderungen, die Versicherer berücksichtigen müssen?
Hier müssen Versicherungslösungen integriert werden, die sowohl dem Unternehmen als Eigentümer/Halter als auch dem Nutzenden/Fahrenden gezielte Produkte und Services entsprechend ihrer Positionierung anbieten. Bei der Absicherung von Mobilitätsdiensten, die als Unternehmen Nutzer*innen Carsharingangebote anbieten, bestehen für Versicherer die gleichen Herausforderungen wie bei Selbstfahrervermietfahrzeugen. Die teilweise Anonymität der Fahrenden stellt hier ein erhebliches Risiko dar. Es gilt, Versicherungsangebote für den Fahrenden (Stichwort: Selbstbeteiligung) zu integrieren, indem er oder sie sich direkt vor Fahrtantritt via App identifiziert und seine oder ihre Daten an den Versicherer weiterleitet.
Ein relativ neues Angebot von Fahrzeugvermietungen ist das Auto-Abo, also Kurzzeitleasing. Hier mietet man ein Fahrzeug für nur kurze Zeit all-inclusive (Service, Wartung, Versicherung, Kfz-Steuern etc.). Auch hier müssen sich Versicherer auf neue Anforderungen einstellen. Wir sind bspw. bei FINN bereits als Versicherer integriert.
Wie planen Versicherer, sich auf die zunehmende Vernetzung und Digitalisierung von Fahrzeugen einzustellen, insbesondere in Bezug auf Cybersicherheitsrisiken?
Die Risikosituation in diesem Themenfeld unterscheidet sich nicht wirklich von den allgemeinen Risiken, die sich aus Cybercrime ergeben. Bereits jetzt sind Angriffe auf Assistenzsysteme und/oder die Ladeinfrastruktur bei Elektrofahrzeugen denkbar. Die Abwehr von Cyberangriffen ist für alle Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette der Automobilität eine dauerhafte Herausforderung.
Hintergrund: Das Interview ist zuerst in der Ausgabe 02/2024 des Fachmagazins Versicherungsbote erschienen – in der Sonderausgabe „Versicherungsbotin“. Die Fragen stellte Björn Bergfeld. Das Magazin kann hier kostenfrei abonniert werden.